Zwangsarbeit, Drill und Gewalt waren früher in den Kinderheimen im Land an der Tagesordnung. Foto: Archiv Verein ehemaliger Heimkinder e.V. - VEH

Das Landesarchiv Baden-Württemberg hat Missstände und Missbrauch in Kinderheimen in der Nachkriegszeit aufgearbeitet. Was die Dokumentation zutage fördert, ist erschütternd.

Stuttgart - Wir können einmal angetanes Leid nicht rückgängig machen“, sagt Sozialminister Manne Lucha (Grüne) über die nicht selten schlimmen Schicksale von Heimkindern in der Nachkriegszeit. Das Mindeste sei aber, die Missstände aufzuklären und zu benennen. „Ich entschuldige mich bei den Betroffenen“, sagte Lucha am Mittwoch bei der Vorstellung einer Studie des Landesarchivs Baden-Württemberg zur Geschichte der Heimerziehung in der Zeit von 1949 bis 1975.

Vieles aus der Studie lasse ihn fassungslos zurück. Zurzeit leben etwa 6500 Kinder im Land in Heimen, hinzu kommen unbegleitete Flüchtlingskinder. Fast 4400 waren es Ende 2016; neuere Zahlen gibt es nicht. „Um die Schutzfunktion des Staates muss man jeden Tag ringen“, sagte Lucha, auch mit Verweis auf den schweren Missbrauchsfall von Staufen.

Aufwändige Recherche zur Aufarbeitung der Vergangenheit

Bei einer Fachtagung mit 100 Teilnehmern aus dem In- und Ausland ist die Dokumentation nun vorgestellt worden. Die Projektstelle Heimerziehung in Baden-Württemberg war 2012 beim Landesarchiv eingerichtet worden als Reaktion auf die Arbeit des bundesweiten Runden Tisches Heimerziehung 2010. In den sechs Jahren haben die Archivmitarbeiter 1767 ehemalige Heimkinder bei der Spurensuche in ihrer Vergangenheit beraten, begleitet und unterstützt. 1444 davon bekamen eine Entschädigung aus dem Hilfsfonds. Das Team hat verstreutes Archivmaterial über die Kinderheime im Land zusammengetragen und gesichtet. Das Material wurde dann für die Betroffenen zugänglich gemacht. Teilweise waren die Betroffenen über Monate hinweg in Kontakt mit dem Projektteam.

Die Archivare konnten schließlich mehr als zwei Drittel der Ratsuchenden mit personenbezogenen Daten helfen. Zu den zehn am meisten nachgefragten Kinderheimen gehörten das Flattichhaus und das Hoffmannhaus in Korntal-Münchingen (Kreis Ludwigsburg), das Kinderheim auf der Karlshöhe Ludwigsburg und das Landesjugendheim Schönbühl in Weinstadt (Rems-Murr-Kreis). Auf dem Schönbühl muss es so schlimm gewesen sein, dass die Kinder 1929 sogar den Aufstand probten.

Gewalt war an der Tagesordnung

Schwere körperliche, sexualisierte und psychische Gewalt war demnach in vielen Einrichtungen an der Tagesordnung. „Vieles war bekannt“, sagte Nora Wohlfarth vom Projektteam. In fast jeder dritten gesichteten Aufsichtsakte fanden sich klare Hinweise auf Missstände. In Honau etwa bekamen die Zöglinge nichts zu trinken, damit sie nicht ins Bett machten. In der Not tranken sie ihren eigenen Urin. In Lahr wurden Kinder „wie Tiere behandelt“. In Waiblingen wurden Zöglinge „zur Strafe in eiskaltes Wasser getaucht“, in Lichtenstein klebte man Kindern den Mund zu. Das war aktenkundig. Und der Staat schaute zu.

Als 1956 in Ellwangen ein Kind im Heim zu Tode geprügelt wurde, erging lediglich ein Hinweis des damaligen Innenministers, man möge doch mehr Sorgfalt walten lassen bei der Personalauswahl. Es musste viel passieren, bis ein Heim geschlossen wurde wie in Freudenstadt 1957. Innerhalb eines Jahres waren dort in einem Heim fünf von 24 Kindern an Unterernährung gestorben. Damals waren Kontrollen noch nicht Pflicht. Das änderte sich erst 1961 mit dem Jugendwohlfahrtsgesetz. Bis 1973 dauerte es, bis körperliches Züchtigen verboten wurde.

Betroffene werden abgebürstet

Viele ehemalige Heimkinder seien traumatisiert bis heute, auch das ist ein Ergebnis der Studie. Und die Demütigungen gehen weiter. Wenn das Landesarchiv bei Einrichtungen, Ämtern oder Behörden nach Akten fragte, bekam es meist problemlos Auskunft, heißt es in der Dokumentation. Baten Betroffene um Einsicht in ihre eigene Geschichte, wurden sie hingegen häufig abgebürstet.

Andreas Blume ist eines der 1767 Heimkinder, die sich auf die Spurensuche begeben haben. Leichtgefallen ist das dem 55-jährigen IT-Spezialisten nicht. Drei Jahre hatte er als Bub in einem Heim verbracht und die Erinnerung an die schweren körperlichen und psychischen Misshandlungen dann komplett verdrängt. Nach 35 Jahren begann sein Körper sich zu erinnern – ungebeten, wie er bitter anmerkt: Er habe die Erinnerung nicht vermisst.

„Heimkind ist kein Stigma mehr“

Blume wandte sich an das Landesarchiv. Und die Projektstelle wurde tatsächlich fündig. Laut Akte beziehungsweise einem Gutachten war er vor seiner Einweisung ein sehr kontaktfreudiger, aufgeweckter und intelligenter Junge. Nach anderthalb Jahren im Heim – auch das ist dokumentiert – war der Bub wie ausgewechselt. Er sei schlecht in der Schule und habe jedes Selbstvertrauen verloren, heißt es in der Akte. Die Recherche sei ein schmerzhafter Prozess gewesen, aber ein lohnenswerter. Ein Heimkind gewesen zu sein „ist für mich kein Stigma mehr“, bilanziert Andreas Blume. Er habe trotz großer Widrigkeiten etwas aus sich gemacht: „Und das kann ich jetzt sogar belegen.“

Das Projektteam hat eine Wanderausstellung zur Heimerziehung im Land erarbeitet, die bis 23. November im Theodor-Rothschild-Haus Esslingen zu sehen ist. Hinweise zur Recherche finden Betroffene unter www.landesarchiv-bw.de/web/61041