Klampfen in der Natur: Das Pfadfinder-Leben hat bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt Foto: dpa

Verheizt, gleichgeschaltet, zu neuem Leben erweckt: Geschichte des Aufbruchs und Tragik der Jugendbewegung in Deutschland.

Stuttgart - „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte.“ Das ist kein Klagelied über die angeblich missratene Jugend von heute, sondern stammt vom griechischen Philosophen Sokrates (um 469-399 v. Chr.).

Das Lamento der Erwachsenen über die unangepasste, unbeherrschte und ungeduldige Jugend ist so alt wie die Menschheit. Dabei ist der Begriff Jugend historisch gesehen relativ jung. Erst um 1900 wurde er häufiger verwendet, um die Lebensspanne zwischen 15 und 25 zu beschreiben, in die so wichtige Lebensphasen wie die Pubertät und individuelle Identitätsfindung fallen.

Bis ins späte 19. und beginnende 20. Jahrhundert hinein blieb die Jugendzeit für viele Heranwachsende ein Fremdwort. Sie traten direkt aus der Kindheit in das Erwachsenenalter ein, das durch Arbeit, Entbehrungen, Krankheit und häufigen frühen Tod gekennzeichnet war. Nur wenige aus begütertem und reichem Elternhaus hatten den Luxus, ein eigenständiges Jugendalter zu erleben.

Die Auflösung der ständischen Gesellschaftsordnung und die Etablierung einer breiten bürgerlichen Gesellschaft führte Ende des 19. Jahrhunderts zu den ersten Jugendkulturen, mit denen sich Jugendliche von der Erwachsenenwelt abgrenzten. Der wirtschaftliche Aufschwung und der Drang nach Freiheit, Eigenständigkeit und Gleichberechtigung ließ sie die traditionellen Werte und Lebensmuster der Erwachsenen kritisch hinterfragen.

Wandervogel-Bewegung begann um 1900

Um 1900 begann mit der Wandervogel-Bewegung das Zeitalter der Jugendbewegung in Deutschland, aus der historisch gesehen die heutigen Jugendverbände und -organisationen hervorgegangen sind. 1901 gründete Karl Fischer, ein ehemaliger Schüler des Gymnasiums Steglitz bei Berlin, den Wandervogel-Verein. Diese Bewegung, die zunächst aus einer kleinen Gruppe Gymnasiasten bestand, unternahm ab 1896 selbst organisierte Wanderungen.

Aus diesen ersten Anfängen entstanden zahlreiche Kleingruppen, die eine neue Naturverbundenheit, das Erlebnis von Gemeinschaft und die Sehnsucht nach dem einfachen, unverfälschten Leben verband. Die zunächst recht unpolitischen Gruppen hielten sich vom üblichen wilhelminischen Hurra-Patriotismus und dem Parteienzwist fern. In der Folge der wachsenden Popularität der Wandervogel-Bewegung gründeten auch Kirchen, Parteien und Gewerkschaften eigene Jugendorganisationen.

In der Kunst wurde der jugendliche Elan zum Sinnbild einer neu aufbrechenden Vitalität und Natürlichkeit, wie sie besonders im Gemälde „Lichtgebet“ zum Ausdruck kommt. Mit diesem Bild schuf der Maler Hugo Höppener (1868-1948, Künstlername „Fidus“), eine Ikone der Lebensreform-Bewegung, die sich eine reine und ursprüngliche Naturverbundenheit auf ihre Fahnen geschrieben hatte.

Aus Anlass des 100. Jahrestages der Völkerschlacht bei Leipzig trafen sich am 11. und 12. Oktober 1913 mehrere tausend Jugendliche auf Einladung der Jugendbünde zum Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner bei Kassel . Dieses „Fest der Jugend“ war das erste große Treffen einer sich emanzipierenden Jugend in Deutschland. Man musizierte am Lagerfeuer Lieder und lebte die Naturliebe aus.

Doch schon bei diesem Treffen zeigten sich die ersten Anklänge der späteren Tragödie der Jugendbewegung. Der unpolitische Impetus hielt nicht lange an, schon bald wurden die Wanderbewegung politisch instrumentalisiert. Aus Wanderern wurden Marschierer. Viele „Wandervögel“ zogen in den ersten Kriegswochen des Jahres 1914 jubelnd und lachend in die Schlachten. Die Sturmangriffe auf Langemark wurden zum Fanal einer ganzen Generation. Nahe der belgischen Stadt in Westflandern tobte im Oktober und November 1914 die erste Flandernschlacht. Zu Zehntausenden fielen die frisch ausgehobenen Schüler, Abiturienten und Studenten im Feuer britischer MGs. Es war die erste große Zäsur, in der die Jugendbewegung ihre politische Naivität verlor.

Hitlerjugend und BDM ersetzen Jugendbewegungen

In der Weimarer Republik (1919-1933) folgte die weitere Politisierung und Radikalisierung der bündischen Jugend. Ihren traurigen Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Gleichschaltung aller gesellschaftlicher Gruppen während des Nationalsozialismus 1939 bis 1945. Die Mitglieder der Jugendorganisationen – christliche Pfadfinder, Jungsozialisten oder Nachwuchsverbände des Roten Kreuzes – wurden in die Hitlerjugend (HJ) und den Bund Deutscher Mädl (BDM) gepresst.

Im braunen Totalitarismus war für jugendliche Individualität und eine eigenständige Jugendkultur kein Platz. In den nationalsozialistischen „Erziehungsanstalten“ und „Adolf-Hitler-Schulen“ wurden junge Menschen zu willfährigen Instrumenten herangezüchtet, um Hitlers entmenschlichte Eroberungspolitik durchzusetzen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg 1945 besannen sich die neu gegründeten Vereine und Organisationen auf ihre alten Ideale. Die freiheitliche und selbstbestimmte Jugendbewegung wurde zur Keimzelle der jungen Demokratie in Westdeutschland. Auf den Trümmern von Selbstbehauptung und Widerstand entstanden neue Organisationen, die von den Erfahrungen der Jugendbewegung geleitet wurden. So kam es zu zahlreichen Neugründungen wie der Christlichen Arbeiterjugend, der Kolpingjugend, dem Christlichen Verein Junger Männer (CVJM), der Deutschen Waldjugend oder der Gewerkschaftsjugend.

In der DDR entstand unter dem Einfluss der Staatspartei SED mit der Freien Deutschen Jugend (FDJ) eine staatlich kontrollierte Großorganisation. Befreit von staatlicher Gängelung und politischer Indoktrinierung hatten dagegen die Jugendlichen im Westen die einmalige Chance, ihre eigenen Lebenskulturen frei und ungezwungen zu entfalten.

So entstanden die unterschiedlichen Jugendkulturen: die skeptische Generation der 1950er Jahre, die 68er Generation, die Null-Bock-Generation der 1980er Jahre und die Lifestyle-Generation der 1990er-Jahre. Der Rostocker Erziehungswissenschaftler Uwe Sander hat das 20. Jahrhundert deshalb das „Jahrhundert der Jugend“ genannt.

1964 trafen sich auf Burg Waldeck im Hunsrück junge Leute, um für ein Leben im Einklang mit der Natur zu streiten und zu singen. Dem „deutschen Woodstock“ verdanken Künstler wie Franz Josef Degenhardt, Reinhard Mey, Hannes Wader oder Hanns-Dieter Hüsch ihre Karriere. Von Burg Waldeck gingen wichtige geistig-kulturelle Impulse aus, die die Jugendszene und die Jugendorganisationen prägten.

In den frühen 1970er Jahren kam es schließlich zu neuen Trends im Vereinsleben. In rascher Folge schossen Frauen-, Umwelt-, Friedens-, Kultur- und Bürgerinitiativen aus dem Boden, die den „Muff“ der Nachkriegsjahrzehnte endgültig vertreiben wollten. Viele der heutigen Umweltvereine entstanden damals in den Jahren 1976 bis zur Wende 1989.

Alte und neue Jugendorganisationen – wie das Deutsche Jugendrotkreuz, die DLRG-Jugend, die Greenpeace-Jugend oder die BUNDjugend – haben eins gemeinsam: den Wunsch nach Geborgenheit und Geselligkeit in einer sozialen Gruppe, der so alt ist wie die Menschheit. Stuttgart -