Die Brüder Joseph und Georg Ratzinger. Foto: dpa/Lena Klimkeit

Der langjährige Leiter der Regensburger Domspatzen, Georg Ratzinger, ist gestorben. Gegen den Bruder von Papst Benedikt XVI. waren zuletzt schwere Gewaltvorwürfe laut geworden.

München - Urlaub gemacht haben sie immer schon gemeinsam, miteinander telefoniert mehrmals in der Woche. Für seinen Bruder ließ Papst Benedikt XVI. sogar ein eigenes Apartment im Apostolischen Palast einrichten, ein Stockwerk über seinem eigenen. Die Sommerwochen verbrachten sie häufig zu zweit in der Päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo. Und immer wieder träumten Georg und Joseph Ratzinger, die sich 1951 auch noch am selben Tag zu Priestern hatten weihen lassen, von einem gemeinsamen Ruhestand in „ihrem“ Regensburg.

Georg und Joseph Ratzinger, die beiden Brüder, waren ihr ganzes Leben lang unzertrennlich. Dass Joseph Ratzinger, nunmehr als emeritierter Papst und mit 93 Jahren selbst schon im Rollstuhl, seinen noch drei Jahre älteren Bruder in dessen letzten Lebenstagen eigens in Regensburg besuchte, erregte zwar Aufsehen, war aber nicht erstaunlich nach dieser ganzen gemeinsamen Biografie – aus der nur am Allerseelentag 1991 die dritte, die gemeinsame Schwester Maria, herausgestorben war. Drei Zölibatäre, drei Familienmenschen.

Georg Ratzinger war Domkapellmeister in Regensburg, drei Jahrzehnte lang, von 1964 bis 1994. Regensburg wurde auch der Fluchtpunkt – im wahrsten Sinne des Wortes – für seinen Professorenbruder Joseph, dem es 1968 an der Uni Tübingen allzu krawallig zuging.

Der Sturm der späten Jahre

Den Musiker Ratzinger wiederum überfiel der große Sturm erst nach der Pensionierung. Was hatte man den Chef der Regensburger Domspatzen zuvor gefeiert! 1500 Konzerte hatten er geleitet, den Weltruhm dieses Knaben- und Jungmännerchors bei Tourneen in Europa, Asien und Amerika vergrößert; unter Georg Ratzinger hatten Generationen immer neuer Domspatzen 27 Schallplatten aufgenommen und an ungezählten Sonntagen die Liturgie in der Bischofskirche begleitet.

Die ersten Misstöne, die ersten Gewaltvorwürfe, die wurden 1998 im Regensburger Klüngel schnell erstickt. 2017 aber, mit dem unabhängigen Forschungsbericht zu sexuellem Missbrauch und zu brutalen „Erziehungsmaßnahmen“ im Internat ebenso wie in der Vorschule der Sängerkinder, senkten sich auch schwere Schatten auf den Kapellmeister.

Georg Ratzinger war ein Perfektions-Fanatiker. Auf schräge Töne bei den Proben reagierte er schon mal, indem er seinen Schlüsselbund auf den Sünder schleuderte. „Ungezügelte Wut“ warfen ihm ehemalige Domspatzen vor; urplötzlich habe er in „blanken Jähzorn“ ausbrechen können, jegliche Geduld sei ihm fremd gewesen. Und zumindest dass er die Kinder geohrfeigt hat – „Watschn mit unbegrenzter Kraft“, wie Sänger den Forschern sagten – das hat Georg Ratzinger später zugegeben. Manchmal, sagte er, sei er halt „grantig“ gewesen und diese Maßnahmen „damals“ normal. „Es ist einfach Irrsinn, wie man über 40 Jahre hinweg überprüfen will, wie viele Ohrfeigen bei uns verteilt worden sind, so wie in anderen Einrichtungen auch.“

Watschn und Süßigkeiten

Sexueller Gewalt wird Georg Ratzinger in der Studie nicht bezichtigt, aber von den mehr als 700 Übergriffen seiner (klerikalen) Mitarbeiter, ist dort festgehalten, musste er gewusst haben. „Vorwerfbar ist ihm in jedem Fall das vielfach beschriebene Wegschauen,“ schreibt Anwalt Ulrich Weber in diesem Untersuchungsbericht von 2017: „Eine Intervention durch Domkapellmeister R. bei körperlicher Gewalt erfolgte in der Regel nicht. Anders ist die vorherrschende Gewalt nicht erklärbar.“

Dabei ist Georg Ratzingers Bild in der Erinnerung seiner ehemaligen Zöglinge nicht ganz so eindeutig. Manche beschreiben ihn als durchaus warmherzig; die tägliche Verteilung von Süßigkeiten, von ihm liebevoll „Raubtierfütterung“ genannt, hat sich genauso ins Gedächtnis eingegraben wie die Wutanfälle. Anders als bei weiteren Beschuldigten, so der Untersuchungsbericht, „fällt auf, dass viele Opfer die allgemeine Menschlichkeit von R. schätzten und trotz Gewalt sogar positive Erinnerungen mit ihm verbinden.“

In seinen letzten Jahren ist Georg Ratzinger erblindet. Und vor acht Wochen hat er zum ersten Mal – allerdings eher wegen Corona – seinen traditionellen Geburtstagsbesuch beim ex-päpstlichen Bruder im Vatikan gestrichen. Dessen frühere Einladung zum generellen Umzug nach Rom hatte Georg Ratzinger ohnehin schon lange ausgeschlagen. Das war auch der Punkt, an dem die beiden Brüder im Alter nicht mehr zusammenfanden. Benedikt, also Joseph Ratzinger, glaubte, als zurückgetretener Papst doch nicht in seinem Regensburger Vorstadt-„Häusl“ wohnen zu können, und Georg glaubte, es im Vatikan nicht aushalten zu können. Die kochten dort ja bestimmt italienisch, sagte er. Das war nichts für ihn.

An diesem Mittwoch ist Georg Ratzinger mit 96 Jahren in Regensburg gestorben.