Der Lehrer: „Wir brauchen die Gemeinschaftsschule, weil der zweite Bildungsweg oft mit einer Stigmatisierung einhergeht“, sagt Helmut Müller-Werner. Foto:  

Warum braucht die Stadt eine Gemeinschaftsschule? Ein Vater und ein Lehrer geben Antworten.

Esslingen - Zwei neue Realschulen will die Stadtverwaltung Esslingen bauen und an der Gemeinschaftsschule Innenstadt eine gymnasiale Oberstufe einführen. Während die Mehrheiten für die beiden Realschulen im Gemeinderat vermutlich zusammen kommen werden, steht die gymnasiale Oberstufe auf der Kippe.

Einer, der findet, dass Esslingen diese Oberstufe braucht, ist der Esslinger Gebhard Mehrle. Er ist Anwalt in Bad Cannstatt, sein Büro ist zwischen den Ziegelbauten der Waiblinger Straße. Er hat in Esslingen vielleicht ein Dutzend Aktive in einer Bürgerinitiative um sich versammelt. „Das dreigliedrige Schulsystem war doch schon 2012 an die Wand gefahren“, sagt er, „die Anmeldungen sind immer weiter gesunken an der Hauptschule.“ Und das stimmt. Damals war auch das böse Wort von der Verliererschule in der Diskussion. Nachdem die Eltern frei wählen konnten, wo sie ihre Kinder unterbringen, waren in vielen Gemeinden in der Region Stuttgart die Anmeldezahlen für die Hauptschulen und die späteren Werkrealschulen gegen null gegangen. Die Gemeinschaftsschule schien damals das einzige Mittel, den Verfall der ehemaligen Hauptschulen aufzuhalten.

In einer Gemeinschaftsschule unterrichten die starken Kinder die schwachen

In diesem Gespräch aber will Gebhard Mehrle nicht Anwalt für Familienrecht sein, sondern Vater zweier Töchter und erklären, warum die Gemeinschaftsschule mit ihrer heterogenen Schülerschaft und der gymnasialen Oberstufe in Esslingen so wichtig ist.

Man muss wissen, dass die Schulbürokratie den Kindern folgende Leistungsniveaus verpasst hat: E-Kinder wie „erweitert“, M-Kinder wie „mittel“ und G-Kinder wie „Grund“. Die E-Kinder sind dabei die Gymnasiumskinder.

„Es gibt einfach Kinder, auf die passt das dreigliedrige Schulsystem nicht“, sagt Gebhard Mehrle und bringt ein Beispiel: Ein Kind, das in Mathematik hoch begabt ist und in einer Fremdsprache mäßig, kann an der Gemeinschaftsschule Mathe auf E-Niveau lernen und Französisch auf M-Niveau. „Wenn dann in Französisch der Knopf aufgeht, dann kann das Kind an dieser Schule seinen Abschluss machen als reines E-Kind.“

In der Gemeinschaftsschule unterrichten unter anderem die starken Schüler die Schwachen. Diese Pädagogik allerdings könnte man in jeder Schulart einführen, schließlich gibt es in allen Klassen gute und schlechte Schüler. „Denken Sie diesen Gedanken mal zu Ende“, sagt Mehrle, „was bleibt denn dann noch von der Realschule, wie wir sie kennen?“

Eine Schule, die es in ihrer alten Form tatsächlich bald nicht mehr gibt, ist die Adalbert-Stifter-Schule in der Pliensauvorstadt. Sie war erst Hauptschule, dann Werkrealschule, jetzt läuft sie aus und soll durch eine Realschule ersetzt werden.

Helmut Müller-Werner hat als Stadtrat der Grünen die Adalbert-Stifter-Schule mit zu Grabe getragen, als Lehrer erfüllt er die Schule mit Leben. Ihn macht es stolz, wenn er ehemalige Schüler trifft, die trotz ungünstiger Startbedingungen ihren Weg im Leben gemacht haben. „An unserer Schule steht die Pädagogik im Mittelpunkt“, sagt er, „und nicht die Wissensvermittlung.“

Helmut Müller-Werner weiß, wovon er spricht. Er selbst kommt aus einem ländlichen Gebiet, wo man zuerst die Hauptschule im Dorf besuchte und dann mit dem Hauptschulabschluss in der Tasche in die größere Stadt pendelte, um dort sein Abitur oder Fachabitur zu machen.

Dieser zweite Bildungsweg gehe für manche Kinder mit der Stigmatisierung als „Hauptschüler“ einher, Ortswechsel seien nötig, das Selbstbewusstsein der Kinder leide. Diesen Brüchen in der Biografie eines Kindes will Müller-Werner mit der Gemeinschaftsschule begegnen. Für ihn ist die Pädagogik dort nichts grundlegend Neues. Sondern etwa so, wie er die Bildung auf einer ländlichen Hauptschule erlebt hat. Ein zweites Beispiel für eine erfolgreiche Pädagogik mit einer gemischten Schülerschaft sind für Helmut Müller-Werner die Waldorf-Schulen. Aber auch Waldorf-Kinder werden zunehmend stigmatisiert, und die Schulen sind als Privatschulen auch nicht für jedermann erschwinglich.

Für ihn sind Hauptschüler, Werkrealschüler, G-Kinder oder welchen Begriff man sich sonst für sie ausdenken mag, Kinder, die entweder mehr Zeit brauchen, oder mehr Pädagogik. In seinem Weltbild stehen diese Kinder im Zentrum und der Versuch, ihre Talente und Anlagen zu entwickeln. Schulen als Kohlegruben für die Fabrikschornsteine zu verstehen, also als „Human resources“, die das Rohmaterial für die steigenden personellen Anforderungen der Wirtschaft zu liefern haben, das ist ihm völlig fremd.

Seine eigene Biografie hat vielleicht auch wegen des damals zementierten dreigliedrigen Schulsystems ebenfalls diese Schnitte. Nach der Hauptschule machte er eine Berufsausbildung, dann über mehrere Umwege eine Ausbildung zum Grund- und Hauptschullehrer. Was die Frage aufwirft, was mit ihm passieren wird, wenn die Adalbert-Stifter-Schule ausläuft. „Das würde mich auch interessieren“, kommt es freundlich zurück.