Applaus im Stehen für den 94-jährigen Auschwitz-Überlebenden Gerhard Maschkowski nach seinem Auftritt jüngst in Stuttgart-Feuerbach. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Die Lebensweisheiten von Zeitzeugen des Nazi-Terrors sind heute wichtiger denn je, findet Lokalchef Jan Sellner.

Stuttgart - Aus gegebenen Anlässen geht es erneut um Geschichte, auch um Stadtgeschichte. Sie sollte uns schon deshalb interessieren, weil die Gegenwart auf ihr aufsetzt. Wer diesen Zusammenhang ignoriert und Gegenwart auf eine geschichtslose Wirklichkeit verkürzen will, hat keinen Boden unter den Füßen und damit auch keinen Standpunkt, wo es notwendig wäre – etwa wenn der Wind politisch stramm von rechts weht. Was die Geschichte lehrt, ist: nicht geschichtsvergessen zu sein.

Heute ist der 9. November – ein zentrales Datum in der deutschen Geschichte, im Guten wie im Bösen. Vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer – ein Grund zur Freude. 81 Jahre zuvor fielen in Deutschland alle Schranken und Tabus – ein Tiefpunkt der Zivilisation. In der Reichspogromnacht setzten die Nazis damals Hunderte Synagogen in Brand und verwüsteten jüdische Geschäfte. Der Auschwitz-Überlebende Gerhard Maschkowski, der jüngst in Stuttgart vor großem Publikum von seinen Erfahrungen mit der Nazi-Barbarei und über sein Leben danach sprach, nennt die Pogromnacht „den Untergang des deutschen Judentums“. Es war der Anfang vom Ende.

Die Geschichte reicht in die Gegenwart hinein

An diesem Samstag wird der Ereignisse von damals gedacht – nicht abstrakt, sondern sehr konkret an Orten, an denen sich der Naziterror ereignete. In Stuttgart sind das etwa die 1938 zerstörte und nach dem Krieg wieder aufgebaute jüdische Synagoge im Hospitalviertel. In Bad Cannstatt ist es die König-Karl-Straße, in der bis zur ihrer Zerstörung in der Pogromnacht ebenfalls eine Synagoge stand. Dort wird 81 Jahre danach die Stimme von Esther Bejarano erklingen, einer 94-Jährigen, die 1943 nach Auschwitz deportiert worden ist und dort als Mitglied im Mädchenorchester den Marsch der Arbeitskolonnen begleiten musste. Ihre Erfahrungen verarbeitet sie wiederum in Musik und Texten. Zusammen mit einer Kölner Rap-Band wendet sie sich leidenschaftlich gegen rechtsextremistische Tendenzen. Ihr Grundton lautet: Wehret den Anfängen! Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Geschichte in die Gegenwart hineinreicht – und das nicht irgendwo, sondern hier in Stuttgart, vor unserer Haustüre.

Es ist ein Glück, dass diese Stimmen noch zu hören sind

Bemerkenswert sind die persönlichen Schlussfolgerungen, die Zeitzeugen wie Bejarano und Maschkowski gezogen haben. Maschkowski etwa geht es nicht um Anklage, sondern um Persönlichkeits- und Herzensbildung, um Freiheitsliebe und um Respekt vor dem anderen. Dafür steht er als Person. Albert Schweitzer, der Friedensnobelpreisträger, kommt einem dabei in den Sinn. Schweitzer, dessen zum Museum umgewidmetes Haus 100 Kilometer von Stuttgart entfernt in Königsfeld im Schwarzwald steht, antwortete einmal auf die Frage, ob er Pessimist oder Optimist sei: „Mein Erkennen ist pessimistisch, und mein Wollen und Hoffen ist optimistisch.“ So ähnlich klingt Maschkowski auch – erinnernd und gleichzeitig Zutrauen verbreitend. Das wirkt ansteckend und könnte ein Mittel gegen aufkeimenden Rassismus sein.

Die Einsichten von Zeitzeugen beziehen ihre Glaubwürdigkeit und Wucht aus den persönlichen Erfahrungen. Sie haben erlebt, wozu Menschen im Negativen fähig sein können, und – wie Bejarano und Maschkowski – trotzdem nicht resigniert. Es ist ein Glück, dass ihre Stimmen immer noch zu hören sind. Zum Abschluss seines Auftritts in Stuttgart riet Maschkowski seinen Zuhörern schlicht: „Geht nie böse ins Bett!“ Man sollte so etwas beherzigen – nicht nur, wenn 9. November ist.

jan.sellner@stzn.de