Die Streiks der Piloten haben die Diskussion über die Tarifeinheit ebenfalls geprägt. Foto: dpa

Die Kläger gegen das Tarifeinheitsgesetz schwanken zwischen Freude und Enttäuschung über das Urteil des Verfassungsgerichts. Die Berufsgewerkschaften eint jedoch die Erleichterung, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist.

Karlsruhe - Andrea Nahles ist nicht gekommen. Die Arbeitsministerin weile im Urlaub an der Ostsee, heißt es. Stattdessen hat sie ihre Staatssekretärin Yasmin Fahimi geschickt. Will Nahles die erwartete Abfuhr vom Bundesverfassungsgericht für eines ihrer wichtigsten Projekte nicht persönlich abholen – so kurz vor der Bundestagswahl? Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaftsbund, die bei der Anhörung am 24./25. Januar noch mit ihren Spitzenkräften Ingo Kramer (BDA) und Reiner Hoffmann (DGB) in Karlsruhe vertreten waren, haben zum Urteil ebenso nur ihre zweite Reihe geschickt. Auch dies erscheint wie ein Zeichen für Pessimismus.

Die Kläger sitzen derweil erneut mit ihrer ersten Garde im Gerichtssaal. Allen gemein ist die Anspannung. Denn die Berufsgewerkschaften sehen durch das Gesetz ihre Existenz beeinträchtigt. Als dann der Vizepräsident des Gerichts, Ferdinand Kirchhof, das Urteil mitsamt Begründung vorliest, herrscht zunächst allgemeine Betroffenheit. Alle Beteiligten müssen die Botschaften erst auf sich wirken lassen. Was sollen sie mit dem klassischen „Ja, aber“-Spruch anfangen?

Der Gesetzgeber muss noch nacharbeiten

Demnach hat der Erste Senat entschieden, dass die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzesweitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Es ist verfassungsgemäß, dass in einem Betrieb nur noch der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft anwendbar sein soll – was vielfach gegen die Berufsgewerkschaften gemünzt werden kann. Kurz danach haben sich die Kombattanten gesammelt, allen voran wieder einmal Claus Weselsky, der Chef der Lokführergewerkschaft GDL – gegen den das Gesetz ja in erster Linie gerichtet war, nachdem er zuletzt 2015 die Republik in Unruhe versetzt hat. „Das Tarifeinheitsgesetz hat so nicht Bestand – es muss nachgebessert werden“, jubiliert er. „Das ist eine Klatsche für die sozialdemokratische Arbeitsministerin.“ Zwar habe das Gericht das Gesetz bestätigt, es aber auch „in den entscheidenden Passagen entkräftet“. Das Grundrecht auf Streik und Koalitionsfreiheit (das Recht von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, sich zusammenzuschließen) wurde bestätigt.

„Der existenzgefährdende Angriff auf uns Berufsgewerkschaften ist abgewehrt“, betont Weselsky. Bezogen auf Lokführer und Zugbegleiter bedeute dies: „Die Karawane zieht weiter.“ Die GDL wolle ihren Flächentarifvertrag ausbauen. „Wir werden vor keinem Eisenbahnverkehrsunternehmen halt machen – unabhängig davon, ob wir in der Mehrheit oder Minderheit sind.“ Die entscheidende Komponente sei der Organisationsgrad. „Für uns hat sich nichts geändert“, sagt der vor Jahren unbeliebteste Gewerkschafter der Republik. Die GDL habe unter verstärkter Beobachtung der Öffentlichkeit Tarifverträge geschlossen. „Das werden wir weiterhin tun.“

Präsident der Pilotenvereinigung ist enttäuscht

Der Präsident der Pilotenvereinigung Cockpit, Ilja Schulz, zeigt sich enttäuscht. Das Gericht habe zugegeben, dass schon geschlossene Tarifverträge verdrängt werden können. „Hier wäre ein milderes Mittel angemessen gewesen.“ Nun müssten sich die kleineren Gewerkschaften Mehrheiten organisieren – auch Cockpit werde dies in Betracht ziehen, „wenn wir dazu gezwungen werden“. Das werde zu neuem betrieblichem Unfrieden führen. Im Lufthansa-Konzern sind die Berufsgruppen aufgeteilt: das Bodenpersonal bei Verdi, die Kabinenbesatzung bei Ufo und die Piloten bei Cockpit. „Hier gibt es keine überschneidenden Tarifverträge“, sagt Schulz. „Die Lufthansa ist ein Paradebeispiel dafür, wie es nebeneinander hervorragend funktioniert.“ Anders sehe es zum Beispiel bei der European Air Transport (EAT) aus, die für die Post fliegt. In solchen Unternehmen kann es krachen.

Zwei Meter weiter freut sich Rudolf Henke, der Vorsitzende des Marburger Bunds, darüber, dass das Tarifeinheitsgesetz nicht verfassungskonform sei. „Das Gericht hat das Gesetz auf die Intensivstation geschickt und schon mit der Behandlung begonnen.“ Es versuche, das Gesetz so umzugestalten, dass es mit Auslegung durch die Arbeitsgerichte vereinbar wird. Der Gesetzgeber müsse sich intensiv damit befassen, den Ansprüchen zu genügen. Dies werde ein Thema des nächsten Koalitionsvertrags sein. Weil davon noch nichts in den Parteiprogrammen steht, erwartet er eine offene Debatte. Henke: „Ich kann mir vorstellen, dass man vom Gesetz die Finger lässt.“ Er werbe dafür, das Werk zu den Akten zu legen, anstatt es umzugestalten.

Marburger Bund arbeitet an einem Plan B

Der Marburger Bund fühle sich jedenfalls als Berufsgewerkschaft vom Gericht anerkannt. „Fakt ist, dass die Tarifpluralität bleiben kann, wenn sie im Sinne des Gesetzes von den Gewerkschaften gehandhabt wird.“ Bei aller Zuversicht denkt Henke jedoch über einen Plan B nach. Höchstens 15 Prozent der Beschäftigten kann der Marburger Bund in einem Krankenhaus organisieren – das ist etwa der Anteil der Ärzte an der Gesamtbelegschaft. Verdi braucht demnach lediglich ein Fünftel der verbleibenden 85 Prozent an sich zu binden, um die Mehrheit für sich zu beanspruchen, schon säße der Marburger Bund am „Katzentisch“. „Wir müssen einen klugen Weg finden, um die Kräfte zu bündeln“, sagt Henke. Darüber gebe es „heiße Debatten“ auch bei den Pflegekräften und Physiotherapeuten. Kurz: Da wird im Hintergrund längst an einer großen Pflegegewerkschaft gewerkelt, um Verdi künftig Paroli zu bieten. „Vielleicht ist das Urteil eine Chance, diese Kräfte zu aktivieren.“

Beamtenbund erwägt Gang nach Straßburg

Auch Beamtenbund-Chef Klaus Dauderstädt geht davon aus, „dass wir damit keine Stabilität bekommen werden“. Vielmehr würden die Probleme in vielen Fällen auf die Arbeitsgerichte verlagert. „Das wird eine Unzahl von weiteren Prozessen auslösen.“ Für den öffentlichen Dienst hat der Beamtenbund 2007 mit Verdi eine „Vereinbarungsabsprache“ getroffen, um Kollisionen zu vermeiden. Zumindest solange Frank Bsirske Verdi anführt, baut Dauderstädt darauf, dass die Absprache trägt. „Ob es in kleineren Bereichen des öffentlichen Dienstes dort, wo sie nicht gilt, so bleibt – da mache ich Fragezeichen.“ Offen lässt der DBB-Chef, ob der Beamtenbund noch wegen der Verletzung von Kernfreiheiten der Koalitionsrechte zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg marschieren will. Das werde nun in Ruhe beraten.