Der Freiwilligendienstleistende Aaron Tannrath schenkt Wasser in ein Glas ein. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Immer mehr junge Menschen in Baden-Württemberg legen nach der Schule ein Freiwilliges Soziales Jahr ein – eine Sache, von der alle Seiten profitieren, wie unser Porträt über Aaron Tannrath zeigt.

Stuttgart - Aaron Tannrath holt ein Wasserglas aus dem Küchenschrank, geht zurück in den weihnachtlich dekorierten Wohnbereich und setzt sich zu Sofia Kopp an einen Holztisch. Dann nimmt er die dort stehende Plastikflasche, schraubt den Deckel ab und schenkt das leicht perlende Mineralwasser langsam ins Glas. Als es voll ist, schiebt er es vorsichtig an den Tischrand und lächelt Kopp an – das Glas ist für sie. Die Dame, die in einem Rollstuhl sitzt, lächelt zurück. Dann beginnen die beiden miteinander zu plaudern. Über Weihnachten. Und über das anstehende Jahr. Kopp ist eine der Bewohnerinnen der sogenannten Jungpflege im Alten- und Pflegeheim der Else-Heydlauf-Stiftung. Sie profitiert von dem jungen Mann mit der anthrazitfarbenen Kapuzenjacke und der dunklen Jeans, der hier in der Einrichtung am Rande des Stuttgarter Stadtteils Zuffenhausen ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) absolviert.

Es sind die kleinen Tätigkeiten, Gesten und Hilfestellungen wie die eben skizzierte, mit denen Tannrath und seine FSJ-Kollegen den Pflegebedürftigen den Alltag erleichtern und darüber hinaus die Pflege- und Servicekräfte entlasten. Tag für Tag werden sie so zu heimlichen Helden.

Großes Engagement für die Gesellschaft

Gisela Gölz schreibt den FSJ-Absolventen eine sehr bedeutende Rolle zu. Sie ist die Sprecherin des Landesarbeitskreises (LAK) für das Freiwillige Soziale Jahr in Baden-Württemberg, dem Zusammenschluss von 35 gemeinwohlorientierten Trägern. „Die Freiwilligen zeigen großes Engagement für die Gesellschaft und sind in vielen Einrichtungen nicht mehr wegzudenken“, sagt sie. Die Einsatzstellen reichen von Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern, Behindertenstätten, Kindergärten bis hin zu Kultur- oder Sportverbänden. Die Else-Heydlauf-Stiftung beschäftigt fünf FSJler: je einen für die vier Wohnbereiche und einen in derTagespflege. Aaron Tannrath arbeitet seit September in der Jungpflege. In diesem Bereich sind die Bewohner zwischen 18 und 65 Jahre alt und in ihrer Motorik eingeschränkt. Die meisten von ihnen leiden unter einer neurologischen Erkrankung, den Folgen eines Schlaganfalls oder eines anderen Unfalls.

Bett beziehen, Handtücher wechseln, Pflegemittel bereitstellen

In der Frühschicht bereitet Tannrath in aller Regel zusammen mit einer Servicehelferin das Frühstück für die Bewohner zu. Der einen schüttet er Zerealien und Milch in die Müslischale, der anderen schneidet er das Brötchen auf, beschmiert es mit Butter und legt eine Scheibe Salami oder Käse drauf. „Mittlerweile kenne ich die Wünsche und Vorlieben der Bewohner“, sagt er. Vormittags hilft er meistens auch im hauswirtschaftlichen Bereich: er bezieht das Bett neu, wechselt die Handtücher im Bad oder bringt nach Mahlzeiten das benutzte Geschirr zur Waschstraße im Untergeschoss. Zu Wochenbeginn muss der 20-Jährige zudem die Pflegemittel für alle Bewohner im Haus vorbereiten – eine verantwortungsvolle Aufgabe für den Heranwachsenden. „Er war von Anfang an sehr engagiert und reif für sein Alter. Wir haben ihm diese Aufgabe ohne Bedenken zugetraut“, sagt der FSJ-Koordinator der Else-Heydlauf-Stiftung, Sven Fischer.

Betreuung der Bewohner macht Tannrath aber am meisten Spaß

In der Spätschicht und auch an den Wochenenden bleibt dem FSJler dagegen mehr Zeit für die Betreuung der Bewohner. Wenn das Wetter es zulässt, spaziert er mit ihnen durch den Garten der Einrichtung. Sonst spielt er mit ihnen häufig eine Partie Mensch ärgere dich nicht. Das Spiel ist beliebt unter den Bewohnern. „Alles, was in Richtung Betreuung geht, macht mir sehr viel Spaß“, sagt Tannrath, „ich finde es wichtig, dass die Menschen auch mal was anderes sehen als die eigenen vier Wände.“

Auf die Idee, überhaupt ein FSJ einzulegen, hatte ihn ein Sozialpraktikum im Januar 2012 gebracht. Für dieses ging er aufgrund der örtlichen Nähe seines Elternhauses bereits ins Alten- und Pflegeheim der Else-Heydlauf-Stiftung. Eine Woche lang begleitete er eine FSJ-Absolventin in der Altenpflege – für den damals 16-Jährigen eine neue, prägende Erfahrung. „Es war beeindruckend, wie dankbar die Menschen sind und wie sie einem ihre Zuneigung zeigen“, sagt Tannrath. Seither reifte in ihm der Gedanke, selbst ein FSJ zu machen und in die Stiftungseinrichtung zurückzukehren.

FSJ-Zahlen in Baden-Württemberg liegen auf Rekordniveau

Im vergangenen Frühsommer verließ er das Ferdinand-Porsche-Gymnasium in Zuffenhausen dann mit der Fachhochschulreife. Für ihn sei klar gewesen, dass er „nicht direkt mit einer Ausbildung beginnen“ werde, erklärt Tannrath. Der kecke, selbstbewusste Kerl mit der modernen Kurzhaarfrisur beschloss, ein FSJ zu machen, und ist damit an einem Rekord beteiligt.

12 700 Heranwachsende im Alter von 16 bis 26 Jahren haben sich im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg für ein soziales Jahr entschieden – so viele wie noch nie zuvor. Seit sechs Jahren hat sich die Zahl der FSJ-Absolventen im Südwesten mehr als verdoppelt. Das liege zum einen an der Abschaffung des Zivildiensts, zum anderen werde das FSJ immer bekannter und beliebter, meint LAK-Sprecherin Gölz. Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) erklärt sich die wachsenden Zahlen aus einer „gewissen Mund-zu-Mund-Propaganda“.

Sozialministerin Altpeter: „Gewinn für alle Beteiligten“

Für die Ressortchefin ist das FSJ „ein Gewinn für alle Beteiligten“. Für die Freiwilligen sei es eine sinnvolle Beschäftigung zwischen Schule und Beruf: „Sie lernen Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und entwickeln soziale und oft auch interkulturelle Kompetenzen“, sagt Altpeter. Für die Einrichtungen sei das FSJ eine Möglichkeit, sich als Arbeitgeber zu präsentieren. Und für die Menschen in den Einrichtungen seien die Freiwilligen „ein Segen“.

Tannrath würde ein FSJ jedenfalls weiterempfehlen. „Das sind Erfahrungen, die man sonst vermutlich nicht sammeln würde“, sagt er. Berührungsängste hat er nie gehabt. Es sei von Anfang an ein rücksichtsvolles Miteinander gewesen. Durch den täglichen Kontakt zu den Bewohnern sind in den ersten vier Monaten bereits emotionale Bindungen entstanden. Die einzelnen Schicksale berühren ihn, wie er unumwunden erzählt: „Es ist schwierig, wenn man mit ansehen muss, wie Menschen aufgrund ihrer Erkrankung abbauen. Da muss man manchmal ganz schön schlucken.“

Monatliches Taschengeld in Höhe von 357 Euro

In einer wöchentlichen Sitzung mit FSJ-Koordinator Fischer sprechen die Freiwilligen über ihre Erlebnisse und erhalten Feedback. Hinzu kommen 25 externe Seminartage. „Die sind ebenfalls sehr interessant“, sagt Tannrath, „in den Workshops gewinnt man Kompetenzen hinzu, etwa für Situationen, in denen man einen Konflikt bewältigen muss. Zudem trifft man auf FSJler aus anderen Einrichtungen, mit denen man sich austauschen kann.“ Über bisherige Erfahrungen, aber auch über Aufgaben und Arbeitsbedingungen. Denn die variieren von Einsatzstelle zu Einsatzstelle. Nur eines ist in der Regel gleich: die Vergütung.

FSJler erhalten ein gesetzlich geregeltes Taschengeld in Höhe von 357 Euro pro Monat. Oft gibt es noch einen Zuschuss für Verpflegung oder Unterkunft. Manch eine Einrichtung stellt den Freiwilligendienstleistenden auch ein Zimmer. Tannrath kommt mit einer Verpflegungspauschale auf rund 450 Euro. Weil er sich davon ein eigenes Apartment oder ein WG-Zimmer kaum leisten könnte, wohnt er noch bei seinen Eltern, nur zwei bis drei Gehminuten entfernt von seinem Einsatzort. „Wegen des Geldes mache ich das FSJ nicht“, sagt er. Er finde, das Jahr sei „einfach eine gute Sache“.

So sehr die Tätigkeit sein Leben derzeit auch bereichert – wenn seine Zeit als Freiwilliger im August dieses Jahres vorbei ist, will Tannrath den sozialen Bereich wieder verlassen. Er strebt eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann an. „Einen Pflegeberuf kann ich mir nicht vorstellen“, sagt Tannrath. Und dennoch ist er sich bereits sicher, dass das FSJ ihn am Ende geprägt haben wird. „Allein, dass man seinen Tagesablauf strukturieren und verbindliche Zeiten einhalten muss, bereitet einen ja aufs richtige Berufsleben vor.“