Diplompädagoge Reinhard Winter, Sozialarbeiter Bernd Möhrle, Erzieher Jakob Simon, Politik-Redakteurin Maria Wetzel und Christoph Dahl, Geschäftsführer der Baden-Württemberg Stiftung diskutierten beim Forum Bildung. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Sie pfeifen häufiger auf Regeln, sind im Schnitt schlechter in der Schule und werden als Risikogruppe angesehen: Sind Jungen das neue „schwache Geschlecht“? Oder müssen sich Familien, Kitas und Schulen einfach besser auf sie einstellen? Das war Thema des Forum Bildung der Stuttgarter Nachrichten.

Stuttgart - Reinhard Winter rät zur Gumminudel. „Damit können sich Ihre Jungs nicht gegenseitig verletzen“, empfiehlt der Wissenschaftler einer besorgten Mutter. Deren Vierjähriger attackiert seinen kleinen Bruder gerne mit Steinen – und macht auch beim Kopf des Kleinen keinen Halt. Was tun?

Mit der Gumminudel können Jungs ihr jungstypisches Verhalten ausüben – die Lust daran, sich mit anderen zu messen, sich beim Raufen zu spüren, Grenzen zu überschreiten – , und zwar ohne negative Folgen, sagt Winter. Geschlechtertypische Verhaltensweisen würden bei Jungs oft viel zu negativ gesehen. Manche Eltern können das an diesem Abend bezeugen: „Über meinen Sohn gibt es jeden Tag Klagen in der Kita. Bei meiner Tochter heißt es dagegen nur: ‚Och, ist die süß’“, sagt eine Mutter aus dem Publikum. Auch Christoph Dahl kann bestens nachvollziehen, was beim Forum Bildung diskutiert wird. Der Geschäftsführer der Baden-Württemberg-Stiftung, Gastgeber der Veranstaltung, ist Vater von zwei Töchtern – und drei Söhnen.

Sozialarbeiter: Jungs lesen, nur anders

Jungstypisches Verhalten – bedeutet das immer nur Probleme? Absolut nicht, sagt Diplompädagoge Winter. Freude am Konkurrenzkampf und Mutproben: Auch so – also positiv – könne man Verhaltensmuster von vielen Jungen sehen, sagt Winter. Der Schulsozialarbeiter Bernd Möhrle empfiehlt ebenfalls, typisches Jungsverhalten umzudeuten und genau hinzusehen. Zum Beispiel heiße es oft, Jungs würden nicht lesen. „Aber sie wissen ganz genau, wie alt Lionel Messi ist und wie viele Tore er geschossen hat – aus Fußballmagazinen. Jungs lesen schon, nur anders und anderes.“ Um das zu fördern, nutzt Möhrle in seiner Arbeit auch das Projekt „Kicken und Lesen“. Möhrle kennt das Erfolgsrezept bestens aus seinem Arbeitsalltag: „Jungs kicken und lesen im Wechsel, immer wenn gepfiffen wird. Das Lesen ist auch als Wettbewerb verpackt, zum Beispiel als Rätsel. Dann sind sie mit Enthusiasmus dabei und denken gar nicht darüber nach, dass sie gerade lesen.“ Leider seien viele Schulen und Kitas noch nicht so weit, sich mit solchen Neuerungen inhaltlich besser auf Jungs einzustellen, sagt Geschlechterforscher Winter.

Wie es anders gehen kann, zeigt der Schulsozialarbeiter mit einem weiteren Beispiel. Bei Möhrle ist Raufen nicht verboten, sondern ausdrücklich erwünscht – in einer Rauf-AG. „Einfach nur so treten und schubsen geht in 90 Prozent der Fälle schief“, sagt Möhrle. Deshalb müssten den Jungs Alternativen geboten werden, wie sie trotzdem raufen dürfen: Bei gezielten Spielen mit klaren Regeln und einer Zeremonie zu Beginn: „Am Anfang versprechen wir uns immer, fair zu kämpfen.“ Auch vom „inneren Schiedsrichter“ sei in seiner Rauf-AG oft die Rede. Erst wer den inneren Schiedsrichter genug trainiert hat, darf bei Spielen des nächsten Schwierigkeitsgrads mitmachen.

Hormone nicht der einzige Grund für Unterschiede

Immer wieder kehrt die Diskussion beim Forum Bildung unserer Zeitung zu einer Grundsatzfrage zurück: Warum sind Jungs überhaupt, wie sie sind? „Manches ist körperlich bedingt“, sagt Geschlechterforscher Winter. Mehr Testosteron im Blut habe Konsequenzen – zum Beispiel hätten Jungs im Schnitt einen größeren Bewegungsdrang als Mädchen.

Aber die Hormone sind bei weitem nicht der Hauptgrund für die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Da sind sich alle drei Männer auf dem Podium einig. So manches Rüpel-Verhalten legten Jungs eher deshalb an den Tag, weil sie glauben, sonst keine echten Männer zu sein. Deshalb zeigt der Erzieher Jakob Simon den Kindern in seiner Kita: „Mann kann auch anders“.

Männliche Erzieher nach wie vor Exoten

Maria Wetzel, Moderatorin des Abends und bildungspolitische Redakteurin dieser Zeitung, will es genau wissen: „Was kann man als Erzieher tun, um starre Geschlechterrollen aufzulösen?“, fragt sie Simon, der in seiner Kita als einziger Mann unter den Erziehern Hahn im Korb ist. „Es ist mir wichtig, dass ich nicht nur an der Werkbank stehe, sondern auch mit den Kindern koche“, sagt Simon. Damit sie sehen: „Nicht nur Frauen können das.“ In seinem Berufsalltag merkt Simon genau, wie früh Kinder vorgefertigte Geschlechterbilder übernehmen. „Viele Kinder fragen mich, was ich in der Kita mache“, sagt Simon. „Sie können sich nicht vorstellen, dass ich dazu gehöre, weil ich der einzige Mann in der Kita bin“

Eltern und Experten kritisieren, dass auch die Spielzeugindustrie zu starren Geschlechterbildern beiträgt. Der Trend, Spielzeuge zu gendern – also sie mit Farben oder Aufklebern für Mädchen oder Jungen auszuweisen – habe in den letzten zehn Jahren zugenommen, beobachtet Winter. „Das ist ein Riesenmist“, sagt Barbara Fröhlich aus dem Publikum . „Da hat die Industrie entdeckt: Wenn Familien ein Spielzeug in blau und eins in rosa brauchen, kaufen sie zwei.“ Obwohl der Inhalt der Verpackung oft der gleiche ist.

Diplompädagoge: Jungs brauchen klare Ansagen

In Sachen Geschlechterbilder setzt Winter noch einen drauf. Vorstellungen von Mann und Frau steuerten nicht nur Kinder, sondern zuerst einmal die Eltern – das liege am Anfang allen Übels: „Mit Söhnen kuscheln Väter weniger als mit Töchtern. Das zeigen Studien. Und das finde ich ziemlich bescheuert.“ Kitas bräuchten viel mehr männliche Erzieher, damit Kinder Männer in unterschiedlichen Rollen kennen lernen und merken: Vielleicht ist draufhauen doch nicht so wichtig, um als Mann Anerkennung zu bekommen. Den Vätern im Saal rät Winter: „Spielen Sie nicht nur Fußball. Schmusen, singen, malen Sie mit Ihren Söhnen.“

Auf der anderen Seite macht der Wissenschaftler ebenso deutlich: Jungs brauchen klare Ansagen – und zwar klarere als viele Mädchen. Winters Beispiel erntet zahlreiche Lacher: „Ich sag ihnen mal, wie das in der Schule oft läuft. Sebastian schmeißt ein zusammengeknülltes Papier auf den Boden. Die Lehrerin sagt: ‚Lieber Sebastian, du weißt doch, das Papier gehört in den Mülleimer und nicht auf den Boden, und wie würde es denn hier aussehen, wenn alle das machen, und denk’ doch auch mal an die armen Putzfrauen, die hier hinterher sauber machen, und überhaupt, für deinen Beruf später ist das auch nicht gut, wenn Du dich nicht an Regeln halten kannst. . .“ Bei solchen Bandwurmsätzen „hören Jungs nur ein Rauschen“, sagt Winter – und machten hinterher dann doch, was sie wollen.

Experten raten zu Gelassenheit – auch bei Schulnoten

Neu ist für Sonja, Mutter von zwei Söhnen: „Dass Geschlechterthemen in der pädagogischen Ausbildung immer noch keine große Rolle spielen. Ich hätte gedacht, da ist man heute weiter.“ Mehr Auseinandersetzung damit, was Jungs und Mädchen unterscheidet und warum, fordert Erziehungswissenschaftler Winter: „Man kann die lange Ausbildung zum Erzieher machen, ohne sich jemals mit Geschlecht zu beschäftigen.“

Neben dem Tipp mit der Gumminudel nehmen Eltern einen weiteren Ratschlag vom Forum Bildung mit nach Hause: Gelassenheit. „Ich wusste bis zum Schulabschluss auch nicht, was aus mir werden soll“, erinnert sich Bernd Möhrle. Als Jugendlicher hat er erlebt, womit viele Jungen zu schaffen haben. Heute bietet der Schulsozialarbeiter – neben der Arbeit an seiner Stammschule in Freudenstadt – Trainings für andere Schulen an. „Es hat dann also doch alles irgendwie geklappt.“ Obwohl laut Möhrle auch seine Eltern einst dachten: Die Noten des Jungen sind miserabel!