Auf dem Podium: Rektor Ressel, Ministerin Bauer, Moderatorin Wetzel (v. li.). Klicken Sie sich durch die Bildergalerie. Foto: Leif Piechowski

Wissenschaftsministerin und Stuttgarts Uni-Rektor diskutieren über Thema: Abitur – und nun?

Stuttgart - Ja, ja, die große Freiheit. Wenn ältere Akademiker von ihren Studienjahren schwärmen, klingt das für heutige Abiturienten wie eine Märchenstunde. „Das war schon toll damals, als das Abi vorbei war“, erinnert sich Wissenschaftsministerin Theresia Bauer bei Forum Bildung im größten Hörsaal der Universität Stuttgart, und Rektor Wolfram Ressel pflichtet ihr bei.

Oben in den Rängen sitzen angehende Studenten, viele flankiert von ihren Eltern, und ihr skeptischer Blick verrät, dass sie das mit der Freiheit nicht so recht glauben. 93.000 von ihnen verlassen in diesen Tagen die Schulen, doppelt so viele wie sonst. Was bleibt da an Spielraum?, will Maria Wetzel wissen, die bildungspolitische Redakteurin unserer Zeitung. Verschulte Studiengänge und hohe Abbrecherquoten kommen als Belastung ja noch hinzu.

Bauer und Ressel präsentieren zunächst die bekannten Zahlen. 22.500 zusätzliche Studienplätze habe das Land geschaffen, allein tausend an der Uni Stuttgart. Es gebe mehr Professoren, Tutoren, Mentoren. Auch in Technik und Bücher habe man investiert. Lediglich in den Labors drohe ein gewisser Engpass. Sein Fazit: „Ich bin mir sicher, dass die allermeisten einen Studienplatz erhalten werden.“

Mehr als ein Drittel der natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bachelorstudenten brechen vorzeitig ab

Doch wie weiß ein 17- oder 18-Jähriger, welches Fach für ihn das richtige ist? Schließlich brechen mehr als ein Drittel der natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bachelorstudenten vorzeitig ab, zitiert Wetzel eine neue Studie, von der Ressel sagt: „Die hat berechtigterweise Wellen geschlagen.“ Die Antwort lautet: Beratung, Beratung, Beratung. „Bitte kommen Sie“, wirbt der Rektor zum Beispiel für den Tag der Wissenschaft am kommenden Wochenende. Gerade in den sogenannten Mint-Fächern – Mint steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – kann Stuttgart außerdem mit einem beachtlichen Nachhilfeangebot aufwarten. Eine solche „Collegephase“ hält Ressel schon deshalb für nötig, weil die Schule heute nicht mehr alle notwendigen Kenntnisse vermittelt.

Aber dann fällt er erneut, der Freiheitsbegriff. Und zwar in einem Zusammenhang, der nicht allen der rund 250 Zuhörer gefallen dürfte: „Bitte studieren Sie nach Neigung, bitte lassen Sie sich nicht von außen beeinflussen“, appelliert der Bauingenieur-Professor an die Abiturienten. Weder Opa und Oma noch die Eltern sollten die Richtschnur sein – und erscheine die Arbeitsplatzlage in einem Fach auch noch so rosig.

Mit Vorsicht solle man auch artverwandte Studiengänge wählen, falls einem das Wunschfach wegen eines zu strengen Numerus clausus verschlossen sei, rät der Rektor. Wer sich zum Beispiel auf das unbeschränkte Bauingenieurstudium einlasse, weil er bei den Architekten nicht zum Zug komme, der müsse wissen, dass ihn bis zum Bachelor eine hohe Dosis Mathematik und Physik erwarte. So sei das eben mit dem Bachelor, sagt er mit einem leicht resignierten Unterton: Es gehe nicht um anwendungsbezogene Inhalte, sondern um Grundlagen-Module, die in einem dicken Modulhandbuch aufgeschlüsselt seien. Ressel: „Das ist Bologna.“

Internationales Hochschulprojekt nicht zerreden

„Nein“, fällt ihm die Wissenschaftsministerin da ins Wort. Man dürfe das internationale Hochschulreformprojekt nicht zerreden. Bologna habe viel mit der Vergleichbarkeit der Abschlüsse zu tun, aber auch mit Freiheit: indem nämlich die Hochschulen selbst festlegen, welche Inhalte für sie wichtig sind. Die dicken Modulhandbücher sieht sie eher in der Verantwortung der Hochschulbürokraten : „Dann arbeiten Sie daran, dass sie dünner werden!“

Die Fragen aus dem Publikum zeigen, dass dies ein wunder Punkt ist. „Haben die Studenten überhaupt noch Zeit zur Selbstfindung?“, will ein Lehrer wissen. Die Wissenschaftsministerin räumt ein, dass die Politik vielleicht „an zu vielen Stellschrauben zugleich“ gedreht hat, um kürzere Studien- und Ausbildungszeiten zu erreichen. Dabei sei Bildung ja kein Wettlauf mit der Zeit. Bauer: „Ein Auslandsjahr ist gut für die Biografie.“ Und wer sage eigentlich, dass man ein Bachelorstudium unbedingt in sechs Semestern bewältigen muss? Soll heißen: Auch das ist ein Teil der studentischen Freiheit.

Dass es einen Zusammenhang zwischen zügigem Studieren, guten Studienbedingungen und letztlich Geld gibt, kommt an diesem Abend ebenfalls aufs Tapet. Ende 2014 läuft der sogenannte Solidarpakt aus, mit dem das Land den Hochschulen eine Art finanzielle Garantie gibt. Doch was dann? „Wir wollen den Pakt erneuern und versuchen, ihn so auszugestalten, dass es nicht weniger wird“, zögert Bauer – wohl wissend, dass der Finanzminister eigentlich Sparvorschläge erwartet.

Stimmt, 180 Millionen Euro pro Jahr sind eine erkleckliche Summe“

„Es sollte mehr werden“, hakt Ressel da ein und warnt, bereits jetzt arbeiteten die Hochschulen „im Grenzbereich“. Bauer will deshalb prüfen, ob die Hochschulen nicht ein Stück zusätzlicher Freiheit erhalten können: die Kompetenz, selbst Bauprojekte in Angriff zu nehmen. Eventuell gingen die Hochschulen ja mit Geld effizienter um.

Und noch eine Freiheit kommt an diesem Abend zur Sprache: die Freiheit von Studiengebühren. „Stimmt, 180 Millionen Euro pro Jahr sind eine erkleckliche Summe“, sagt die Grünen-Politikerin. Die Abschaffung der Gebühren sei trotzdem das richtige Signal. Freie Bahn für die neuen Abiturienten, lautet also der optimistische Tenor dieses Abends.

Dass es zu einem außergewöhnlichen Run auf die Hörsäle kommt, glauben die Podiumsteilnehmer ohnehin nicht. Der Testfall sei doch schon im vergangenen Jahr eingetreten, sagt Ressel, denn da hätten viele Abiturienten aus Furcht vor dem Ansturm im Jahr 2012 sofort mit ihrem Studium begonnen. Für das aktuelle Jahr erwartet Ressel wiederum, dass viele Abiturienten erst einmal ins Ausland gehen – jedenfalls nicht studieren. Ein „Verschleppungseffekt“, der ein wenig mehr Freiheit verschafft.

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