Der Professor und der fliegende Dodekaeder: Albrecht Beutelspacher verblüfft das Publikum mit ein paar einfachen Experimenten. Klicken Sie sich durch die Bildergalerie. Foto: Leif Piechowski

Wer mit Mathematik-Lücken kokettiert, weckt meist Sympathie: Leidensgenossen unter sich. Ein merkwürdiges Phänomen, dem das Forum Bildung der Stuttgarter Nachrichten auf den Grund ging.

Stuttgart - Das fängt ja gut an. Da trägt der Abend das unschuldige Motto „Keine Angst vor Mathe“, und womit beginnt der Referent? Mit dem Dodekaeder. Das ist ein Körper mit zwölf Flächen, und die schreien geradezu danach, nach allen Regeln der Kunst berechnet und begriffen zu werden. Die ersten Zuschauer rutschen tiefer in ihre Sitze.

Doch nichts von alledem verlangt der Mathematikprofessor. Albrecht Beutelspacher hat nur ein kleines Experiment gemacht, um das Publikum zu verblüffen. Jetzt steht er vorn auf dem Podium, hält den „wunderbaren Dodekaeder“ in die Luft und ruft: „Mathematik macht glücklich.“

Na ja, Brigitte Liebelt macht da andere Erfahrungen. Die Leiterin der Stuttgarter Jörg-Ratgeb-Schule unterrichtet selbst Mathematik und erlebt täglich, wie stark das Fach polarisiert. Während die einen nach Denksport lechzen, sehen andere darin bestenfalls ein notwendiges Übel. Warum ist das so?, fragt Maria Wetzel, die bildungspolitische Redakteurin unserer Zeitung, die den Abend im Sparda Event-Center moderiert. Warum jagt Mathematik so vielen Menschen kalte Schauer über den Rücken?

Liebelt macht dies vor allem am gesellschaftlichen Stellenwert fest. Ihr Befund: Während sich Japaner öffentlich in Kopfrechnen miteinander messen, kokettieren Deutsche ungeniert mit ihrer Mathe-Schwäche. Fassungslos erzählt die Lehrerin, deren zwei Schwestern Informatik studiert haben, wie sie einmal gefragt wurde: „Aber die Eltern sind normal?“

Die meisten Kinder sind neugierig

Überhaupt, die Eltern: Bei ihnen beginnt die Mathe-Misere, glaubt Beutelspacher. Es sei eben falsch, wenn die Mutter der Tochter mitleidsvoll zuflöte, sie habe das alles früher auch nicht verstanden. Denn die meisten Kinder seien neugierig und fragten sich zum Beispiel, warum ihre Stimme im Badezimmer anders klinge als im Wohnzimmer – was letztlich auch mit Mathematik zu tun hat. „Man muss die Neugier nur befriedigen“, pflichtet Liebelt bei.

Es muss ja nicht gleich zugehen wie früher bei Beutelspachers zu Hause, wo sechs Geschwister um den kärglich gedeckten Tisch saßen und der gerechten Verteilung von zwei Bratwürsten harrten. Da hätten die Brüder dann automatisch das Bruchrechnen gelernt, lacht der gebür/tige Tübinger. Natürlich gebe es Menschen ohne Zahlenverständnis: „Die bezahlen dann immer mit einem 20-Euro-Schein und freuen sich, wenn sie was zurückkriegen.“ Aber meistens sei das eine Ausrede. Der Professor jedenfalls ist überzeugt, dass man Kinder spielerisch zu der Materie bringen kann, und in seinem Mathematik-Mitmach-Museum in Gießen kann sich jeder davon überzeugen.

Aber gelingt das auch im Klassenzimmer? Auf der Bildschirmwand werden Ritter-Sport-Tafeln eingeblendet – angeordnet als Quadrate an den Seiten des rechtwinkligen Dreiecks. „Im Unterricht machen wir das in Naturalien“, lacht Liebelt und erklärt, warum man den Satz des Pythagoras nicht nur anwenden, sondern auch beweisen lernen sollte: „Sie können spielen mit diesem Satz“, ruft sie begeistert, und ihr Gesprächspartner bekommt leuchtende Augen.

„Mädchen denken erst und reden dann“

Die Moderatorin bremst den Höhenflug mit dem Hinweis auf die Probleme von Mädchen. Studien zeigen, dass sie deutlich hinter den Jungs herhinken. Muss man Mathe also anders unterrichten? Vielleicht nach Geschlechtern getrennt? Das hält die Lehrerin für lebensfremd. Sie räumt aber ein, dass viele pubertierende Mädchen bei dem Stoff „wegkippen“, wie sie es nennt: „Die haben Anderes im Kopf als Mathe.“ Hinzu komme, dass Jungs meist schneller ihre Antwort hinausposaunten – auch wenn sie falsch sei: „Mädchen denken erst und reden dann.“

Immerhin, es gebe vermehrt Doktorandinnen, stellt Beutelspacher fest – und holt aus zu einem neuen Experiment: Zwei gelbe Holzbausteine warten darauf, zu einer Pyramide zusammengesetzt zu werden. Er blickt ins Publikum – niemand posaunt etwas hinaus. Eine Drehung, voilà. Der Professor genießt den Beifall und spottet: „Man könnte an der Evolution verzweifeln, wenn man manchen Leuten dabei zuguckt.“

Schon ist die Runde wieder beim Thema: Brauchen manche nicht einfach länger, um etwas zu begreifen? Liebelt nickt: „Ich hätte gern mehr Zeit für den Unterricht, denn das Wesen von Mathe ist das Suchen von Ideen.“ Es gehe nicht ums Rechnen, sondern darum, Kreativität zu entwickeln, sagt auch Beutelspacher. Und das benötige eben Zeit.

„Ein französischer Satz mit fünf Fehlern klingt ja immer noch wie ein französischer Satz“

Müsste man dafür nicht den Unterrichtsstoff entrümpeln? Und was passiert mit jenen Schülern, die ihre Lücken nicht stopfen können? Auch das Publikum, unter den 300 Gästen sind viele Lehrer, bringt jetzt seine Fragen ein. Lücken in Mathe seien schwerer zu schließen als in anderen Fächern, räumt Liebelt ein: „Ein französischer Satz mit fünf Fehlern klingt ja immer noch wie ein französischer Satz.“ Aber eine Gleichung? „Da erkennen Sie schneller Ihr Scheitern.“

Was das Entrümpeln angeht, hat Beutelspacher schon mal die Analysis – also die Differenzial- und Integralrechnung – zur Disposition gestellt, von Kollegen dafür aber heftig Prügel bezogen. Trotzdem plädiert er für Stoff, der den Schülern zeigt, dass Mathe mit Denken zu tun hat, weniger mit Rechnen: „Dafür würde ich den Preis zahlen, die Analysis zurückzudrängen.“

Eine Zuhörerin beklagt, es gehe leider immer um Lösungen. Dabei sei doch Mathematik ein Denkvorgang, der nicht unbedingt belohnt werden müsse. Liebelt schaut etwas gequält, denn sie kennt die Zwänge des Schulalltags: „Ja, aber dann bräuchten Sie ein unterschiedliches Tempo.“ Denken sollen die Schüler lernen, bekräftigt Beutelspacher, und das münzt er auch auf Studenten. Mit der Bachelor-Ausbildung ist er nämlich nicht zufrieden. Wenn das nicht gelinge, werde Deutschland zwar weiterhin Autos bauen, aber keine Autos mehr erfinden.

Das Forum Bildung geht weiter

Das Forum Bildung wird fortgesetzt. Die nächste Podiumsveranstaltung findet am 28. Januar 2013, 19 Uhr, in der Triangel-Mensa in Leonberg statt. Dann geht es um das Thema Ganztagsschule.

Podiumsgäste sind Dr. Ivo Züchner vom Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung in Frankfurt und Oberbürgermeister Bernhard Schuler, moderiert wird die Diskussion von Bildungsredakteurin Maria Wetzel

Der Eintritt zu der Veranstaltung ist frei, eine Einlasskarte jedoch erforderlich. Diese erhalten Sie, wenn Sie eine E-Mail schicken an forumbildung@stn.zgs.de