Regierungsberater Trautwein: „Baden-Württemberg hat komplett die Orientierung verloren.“ Foto: factum/Weise

Der Absturz von Baden-Württembergs Schülern in bundesweiten Leistungsvergleichen ist laut dem Tübinger Bildungsforscher Ulrich Trautwein Folge einer verfehlten Bildungspolitik. Seit zwei Jahrzehnten schon befinde sich das Land im Abwärtstrend.

Stuttgart - Warum sind die Leistungen der baden-württembergischen Schüler in bundesweiten Vergleichstests so schlecht geworden? Wir sprachen darüber mit Professor Ulrich Trautwein, Bildungsforscher und Berater von Kultusministerin Susanne Eisenmann.

Herr Professor Trautwein, Baden-Württembergs Schüler sind im Vergleich der Bundesländer leistungsmäßig stark abgesackt. Wie ernst ist die Lage? Manche meinen ja, das könne bei den nächsten Vergleichstests schon wieder ganz anders aussehen.
Diese Hoffnung teile ich nicht und sie ist eher ein Beleg dafür, dass die Dramatik der Lage noch nicht überall erkannt wurde.
Was meinen Sie damit?
Baden-Württembergs Schulen sind seit fast zwei Jahrzehnten im Abwärtstrend. Ob Lesen, Mathematik oder Naturwissenschaften – man lag im Jahr 2000 im Vergleich deutlich überdurchschnittlich. In den folgenden Jahren sind in anderen Bundesländern die Leistungen gestiegen, während sie in Baden-Württemberg stagnierten. Die jüngsten Studien dokumentieren im Lesen und Zuhören sogar einen Leistungseinbruch. Ebenso bedenklich: Wir haben einen viel zu hohen Anteil von Schülern, deren Leistungen unterhalb der Mindeststandards liegen.
Gibt es Hoffnung auf schnelle Besserung?
Die meisten Faktoren, die auf Schulleistungen wirken, lassen sich nicht von heute auf morgen ändern. Wir können froh sein, wenn wir zeitnah den Abwärtstrend stoppen.
Was machen Bundesländer wie Bayern oder Sachsen anders, deren Schüler seit Jahren in den Vergleichstests sehr gut abschneiden?
Diese Bundesländer haben an klar definierten Leistungsanforderungen festgehalten, die auf allen Ebenen vergleichsweise rigoros durchgesetzt werden. Zudem wurde wenig am Schulsystem herum experimentiert.
Das ist bei Hamburg und Schleswig-Holstein, bei denen es klar nach oben geht, aber anders.
Beide Bundesländer haben infolge von unbefriedigenden Leistungen ihr Schulsystem umfassend professionalisiert. Statt Misserfolge und Qualitätsprobleme zu ignorieren, wurde eine „Kultur des Hinschauens“ etabliert, die gepaart ist mit passgenauen Hilfsangeboten. Dabei kommt nur das in die Schulen, was sich zuvor in wissenschaftlichen Studien als wirksam erwiesen hat.
Was hat Baden-Württemberg falsch gemacht?
Vereinfacht gesagt: Baden-Württemberg hat bei dem Versuch, ein traditionelles, eher obrigkeitsstaatliches Schulsystem umfassend zu modernisieren, komplett die Orientierung verloren. Es fehlte nicht an Reformen, aber oftmals waren es die falschen oder die Umsetzung war mangelhaft. Und dass etwas falsch läuft, wurde lange Zeit nicht bemerkt. Ein entscheidendes Problem: Statt eine Kultur des systematischen Hinschauens zu etablieren, wurde ein kritischer Blick zunehmend als Zumutung empfunden.
Es heißt, der Südwesten habe halt besonders viele Schüler mit Migrationshintergrund.
Baden-Württemberg steht in der Tat vor einer gewaltigen Herausforderung. Die Zusammensetzung der Schülerschaft macht das Unterrichten in vielen Schulen zunehmend schwieriger. Wenn die meiste Zeit darauf verwendet werden muss, dafür zu sorgen, dass Unterricht überhaupt möglich ist, kann man keine tollen Leistungen erwarten.
Das Land kann also gar nichts machen gegen die Leistungsmisere?
Damit macht man es sich zu leicht. In Baden-Württemberg gab es eine ungünstige Leistungsentwicklung auch bei Schülern ohne Migrationshintergrund. Und dass der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund steigen würde, war lange bekannt. Hamburg hat einen ähnlich hohen Migrantenanteil, ist mit dieser Herausforderung aber in den letzten Jahren besser umgegangen.