Leben im Flüchtlingslager von Idomeni Foto: AP

Noch immer leben mehr als 9000 Menschen im griechischen Idomeni an der Grenze von Griechenland zu Mazedonien – unter prekären Bedingungen. Thomas Roser

Idomeni - Die Chance der im griechischen Idomeni gestrandeten Flüchtlinge auf die erhoffte Weiterreise nach Westeuropa ist klein, ihre Mittel meist längst aufgebracht. Aber dennoch harren mehr als zwei Monate nach der Abriegelung der Balkanroute noch immer 9000 Menschen im trostlosesten Zeltlager Europas aus.

Schwer brütet die Mittagshitze über den verblichenen Kuppeln der Iglu-Zelte. Mit seiner einjährigen Tochter Mira im Arm kommt der Mann im weißen T-Shirt auf dem staubigen Feldweg am Bahndamm von Idomeni ohne Umschweife zur Sache. „Entschuldige bitte, hast Du Geld?“, fragt verlegen lächelnd der braun gebrannte Syrer Hamid. Vor drei Monaten habe ein tief fliegender Helikopter sein Haus in der Hauptstadt Damaskus beschossen, erzählt der 30jährige LKW-Fahrer: „Ich hatte vom Krieg genug, nahm Frau und Kind – und machte, dass ich wegkam.“

Über die Türkei führte sein überhasteter Aufbruch in Richtung Deutschland den Familienvater bis nach Idomeni. Doch an die griechisch-mazedonische Grenze gelangte Hamid einige Tage zu spät. Erst riegelte Mazedonien Anfang März unter der Regie Wiens die Grenze für die Flüchtlinge fast und schließlich ganz ab. Das Problem sei für seine Tochter und die schwangere Frau vor allem das Essen, erklärt Hamid, warum er nach zwei Monaten des vergeblichen Wartens das triste Zeltlager an den blockierten Gleisen von Idomeni nun verlassen will: „Immer nur Suppe, Suppe, Suppe. Meine Frau ist ständig hungrig, meine Tochter übergibt sich. Aber ich habe kein Geld mehr, um im Laden noch Bananen oder Kartoffeln für sie zu kaufen.“ Seine letzten 50 Euro würden nicht einmal für drei Bus-Tickets nach Athen reichen, seufzt der Syrer.

Vor allem das Essen ist ein Problem

In den Gratisbus in eines der neuen regulären Aufnahmelager will der ratlose Familienvater dennoch auf keinen Fall steigen: „Da ist es noch schlimmer als hier – und kommt man niemals mehr weg.“ Barfuß tollen Kinder durch ausgetrocknete Schlammkuhlen. Vor den Essensausgaben der Hilfsorganisationen stehen die Camp-Bewohner für Suppe und einfache Reisgerichte an. Das im März zeitweise auf über 14 000 ausgeuferte Lager-Provisorium scheint sich zwei Monate nach der Abriegelung der Balkanroute etwas gelichtet, gleichzeitig aber auch verfestigt zu haben. Zwischen eingeschlagenen Pfählen haben die Zwangs-Camper mit Planen Vorzelte abgespannt. Hinter Behelfsöfen und Feuerstellen stapelt sich das Holz, in manchen Zelten auch die Lebensmittelvorräte: In provisorischen Lager-Läden bieten Händler ihren Leidensgenossen im Dorf erstandene Eier, Nudeln und Gemüse feil. „Manche hoffen noch immer – und es kursieren pausenlos neue Gerüchte, dass die Grenze bald aufgehen werde“, berichtet in seinem Dienstcontainer Nasir Abel Fernandes, der Lager-Koordinator des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR.

Mischung aus Misstrauen und Hoffnung

Ihre Situation belaste die Lager-Bewohner trotz aller Entbehrungen vor allem „mental“. „Für jeden wäre es besser“, in ein anständiges Auffangzentrum mit adäquateren Bedingungen zu kommen, sagt der Kenianer. Dass noch immer 9000 Menschen im trostlosesten Zeltlager Europas ausharren und sich der angebotenen Umsiedlung in reguläre Auffangzentren widersetzen, erklärt der schmächtige UN-Beamte mit einer „Mischung“ aus der Hoffnung auf die Weiterreise und dem Misstrauen gegenüber den griechischen Lagern. Erst allmählich sei in dem Lager ein „Stimmungswandel“ zu verspüren: „Als ich hier im März anfing, gab es noch jeden Tag Proteste gegen die Schließung der Grenze. Aber inzwischen realisieren mehr und mehr Menschen, dass mit deren Öffnung wohl kaum zu rechnen ist.“

Im fernen Österreich haben die Innenministerin und der Premier, welche die Regie bei der Abriegelung der Balkanroute führten, ihre Posten inzwischen geräumt. In Idomeni hängt der schlaksige Kadir noch immer in seinem Zeltverschlag fest. „Ich bin sauer“, sagt der Kurde, während er von seiner gescheiterten Odyssee zu seinen Verwandten in Deutschland erzählt. Ans Aufgeben verschwende er genauso wenig Gedanken wie die Übersiedlung in ein reguläres Auffanglager: „Ich bleibe solange hier, bis die Grenze aufgeht.“ Auch ohne Geld für Schlepper will sein Schwager Achmed erneut den Gang über die grüne Grenze wagen.

Der Zaun führe zehn Kilometer nach Westen, könne danach aber umgangen werden: „Du musst Dich dann nur zurück bis zur Bahnlinie durchschlagen und dieser immer nach Norden folgen.“ Wer ins 180 Kilometer entfernte Serbien gelange, habe es „geschafft“, glaubt der Kurde: „Wenn Dich die ungarischen Grenzer schnappen, stecken sie Dich zwar erst in ein geschlossenes Lager. Aber sie lassen Dich danach in Richtung Österreich laufen.“

Die letzten Ersparnisse sind weg

An die riskante Option einer illegalen Grenzpassage verschwenden die Familien kaum Gedanken. Diejenigen, die noch Geld für kostspielige Schlepper hatten, sind längst weiter gereist. Fließend Englisch sprechende Ingenieure, Ärzte und Studenten scheinen sich unter den verbliebenen Syrern immer weniger zu finden: Den Handwerkern, Arbeitern und Kleinhändlern, die es auf der Flucht vor dem Krieg mit ihren letzten Ersparnissen bis vor das geschlossene Grenztor schafften, sind beim Warten in Idomeni längst die Mittel ausgegangen.

Die Vergessenen von Idomeni sind kaum mehr gefragt. Nicht nur die meisten Kamera-Teams haben das Lager verlassen. Auch die griechischen Imbisshändler haben längst ihren lange sehr einträglichen Standplätze geräumt. Stattdessen bieten immer mehr Flüchtlinge selbst gemachte Falafel oder Zigaretten feil – und finden trotzdem immer weniger Kunden. „Den Leuten geht langsam das Geld aus“, erzählt Attia Algasem. Mit einem Handtuch-Turban auf dem Kopf schnippelt der syrische Friseur seinen Kunden unter freiem Himmel die Haare.

In Damaskus habe er einen Salon und „gutes Auto“ besessen, in Idomeni sein letztes Geld in den Kauf einer provisorischen Berufsausrüstung investiert, erzählt er beim schnellen Scherenklappern: Trotz der sich rasch leerenden Taschen der Kunden mache er pro Tag noch immer 25 Euro Gewinn. Zwar plagt seine Tochter seit dem Versprühen von Tränengas ein hartnäckiger Dauerhusten. An den Umzug in ein Auffanglager verschwendet Attia trotzdem keine Gedanken: „Idomeni ist ein schlechter Ort, aber wir sind wenigstens noch frei.“

Ein ständiges Kommen und Gehen

Gerüchte macht UNHCR-Koordinator Fernandes für das tiefe Misstrauen vieler Lagerbewohner verantwortlich. Dabei würde die Ausstattung der neu geschaffenen Lager „ständig verbessert“ und zur Beschleunigung der Bearbeitung der Asylanträge der Personalbestand der griechischen Behörden kräftig erhöht. 2500 Flüchtlinge hätten sich seit Ende März immerhin in reguläre Auffanglager umsiedeln lassen: „Wir wissen aber nicht, wie viel davon wieder zurückgekommen sind. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen.“ Weitgehend gestoppt sei hingegen die Anreise von neuen Flüchtlingen über die Ägäis aus der Türkei: „Es kommt fast niemand mehr auf den griechischen Inseln an.“

Das Essen, die sanitären Bedingungen und die Spannungen im Lager seien „schlecht“, doch das schlimmste sei das geschlossene Tor: „Geht die Grenze wieder auf, weißt Du etwas neues?“ Auch der familiäre Ausnahmezustand kennt feste Alltagsrituale. „Salam Alaikum“ grüßt der Müllmann, der unter den Lagerbewohnern neue Müllsäcke austeilt. „Evharisto“, bedankt sich Sulejman auf Griechisch. Die Griechen und die internationalen Helfer im Lager seien „gut“ zu den Leuten. Ärger gebe es aber regelmäßig „unter den Arabern“: „Immer Streit und manchmal Kämpfe – es ist einfach furchtbar.“ Nein, in ein Lager würden die Familien trotzdem nicht gehen, versichert er beim Abschied: „Wir bleiben hier, und warten ab, was passiert.“ Bei der Frage, ob er noch wirklich daran glaube, von Idomeni weiter reisen zu können, zuckt der Syrer ratlos mit den Schultern: „Inschallah – so Gott es will.“