Tausende Flüchtlinge sind in den letzten Monaten ins Land gekommen. Wie erleben sie die neue Heimat – und wie bereiten sie sich auf ihre Zukunft in Deutschland vor? Unsere Autoren begleiten drei junge Syrer in einem Langzeitprojekt bei ihren ersten Schritten im Land.

Stuttgart-Plieningen - Eigentlich mag Mazen Adjektive. Im Deutschen, sagt er, gebe es für jede Situation viele passende Adjektive, und überhaupt mag er, dass die Sprache so „reich“ sei. Nur mit den Adjektivdeklinationen ist das so eine Sache. Mit gerunzelter Stirn blickt er auf das Arbeitsblatt, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Die Präpositionen, findet Mazen, seien nicht logisch. „Ein grüner Papagei sitzt in einem hohen Baum“, liest er langsam vor. Die Lehrerin nickt. „Und wie würde der Satz mit dem bestimmtem Artikel lauten?“

In dem kleinen Klassenzimmer der Universität Hohenheim herrscht konzentrierte Ruhe an diesem Donnerstagvormittag. Vierzehn Studierende sitzen an den zusammengestellten Tischen, lesen der Reihe nach ihre Hausaufgaben vor. Wenn einmal keiner spricht, ist nur die surrende Klimaanlage zu hören, durch die geöffneten Fenster dringt leise der Lärm eines Rasenmähers.

Es ist ein besonderer Kurs, der seit dem 6. Juni in den Gebäuden des Instituts für Ernährungsmedizin in Stuttgart-Plieningen stattfindet: Die Teilnehmer, vierzehn Männer und eine Frau, sind Geflüchtete, fast alle kommen aus Syrien. „Nur ein Student fehlt heute, ein junger Mann aus Kamerun“, sagt Katharina Georgi-Hellriegel.

Der Kurs soll Flüchtlinge auf ein Studium in Deutschland vorbereiten

Im Wechsel mit einer Kollegin unterrichtet sie die Klasse, in der auch Mazen, sein Bruder Abdul und sein Cousin Hassan sitzen (Nachnamen werden zum Schutz nicht genannt, d. Red.). Der Intensivsprachkurs soll sie auf ein Studium an einer deutschen Universität vorbereiten. Es ist ein weiterer Schritt für die drei Syrer, die seit nunmehr elf Monaten in Deutschland leben. Ein Schritt in Richtung Selbstbestimmtheit, vielleicht, irgendwann, auch in Richtung Job.

Im September 2015 kamen Mazen, Abdul und Hassan am Stuttgarter Hauptbahnhof an, als Deutschland kurzzeitig die Grenzen für Geflüchtete aus Ungarn öffnete. Sie flohen vor dem Krieg, der Perspektivlosigkeit – und vor dem Einzug in die Armee von Baschar al-Asad. Nach zwei Monaten in der Landeserstaufnahmestelle in Karlsruhe und sechs Monaten in einer Notunterkunft in Obertürkheim leben die drei in einer Unterkunft in Zuffenhausen. Ihre kleine Dreizimmerwohnung teilen sie mit einem Familienvater aus Syrien und dessen Söhnen. Der Alltag besteht für sie vor allem aus Deutschlernen – und aus dem Warten auf die Anerkennung, die ihnen endlich erlauben würde, weiter zu studieren, zu arbeiten.

In ihrer Heimat, in Syrien, haben die drei schon ein Studium abgeschlossen. Vor der Flucht arbeitete Mazen (26) dort als Pharmazeut in einer Apotheke. Auch in Stuttgart würde er das gerne tun. Er hospitiert ein paar Stunden täglich in einer Apotheke in Untertürkheim, hat Kontakt zu einem Medizintechnikhersteller in Waiblingen aufgenommen. Und träumt davon, irgendwann einmal eine eigene Apotheke zu eröffnen. Sein Bruder Abdul (27) hatte in Aleppo Management studiert, der 24-jährige Hassan Wirtschaft in Damaskus. An der Universität Hohenheim wollen die beiden ihr Studium so bald wie möglich wieder aufnehmen.

„Alle sprechen Deutsch miteinander – das hilft viel“

Das ist auch Heyam Salaymehs Plan. Die 23-jährige palästinensische Syrerin flüchtete im September 2015 mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus dem umkämpften Homs. Ihr Biologiestudium hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. Heyam trägt ein langärmeliges Oberteil, Brille und Kopftuch. Dass sie die einzige Frau in dem Kurs sein würde – damit hatte sie nicht gerechnet. „Am ersten Tag war ich richtig erschrocken“, sagt sie. „Es wäre schön gewesen, noch eine andere Frau hier zu haben.“

Um an dem Kurs teilzunehmen, pendelt Heyam täglich mehr als eine Stunde. Mit ihrer Mutter und ihrer Schwester wohnt sie derzeit noch in einem Asylbewerberheim in Waiblingen. Ihrem Asylantrag wurde vor Kurzem stattgegeben. Nun will die junge Frau nach Plieningen ziehen, in die Nähe der Universität.

100 Millionen Euro hat die Regierung für integrative Maßnahmen bereitgestellt

Fünfmal pro Woche soll der Intensivsprachkurs bis Weihnachten stattfinden, der vom Sprachenzentrum der Universität organisiert wird. Immer wieder wird dabei auch geprüft, wie die Teilnehmer sprachlich stehen. Der Kurs wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert. Bis 2019 stellt dieses rund 100 Millionen Euro bereit, um Flüchtlingen an bundesweit 180 Hochschulen den Weg in ein Studium zu ebnen. Bereits 2016 fließen 27 Millionen Euro in entsprechende Programme und Projekte, die vor allem vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) durchgeführt werden.

„Wer das Zeug dazu hat, soll bei uns studieren können“, sagt Johanna Wanka (CDU), die das BMBF leitet. „Wir wollen geflüchteten jungen Talenten möglichst schnell eine Perspektive als internationale Studierende geben, damit sie als Fachkräfte eines Tages ihre Heimat wieder aufbauen oder hier zum Wohl unseres Landes beitragen können.“ Mehr als die Hälfte der nach Deutschland Gekommenen ist unter 25 Jahre alt. Viele haben ein Studium angefangen oder sogar abgeschlossen – allein im vergangenen Jahr sollen Schätzungen zufolge bis zu 50 000 studierfähige Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten gekommen sein.

Für sie sei derzeit die Sprache noch die größte Hürde, sagt DAAD-Präsidentin Margret Wintermantel: „Deshalb sind Vorbereitungskurse von zentraler Bedeutung.“ Mit dem Programm „Integra“, zu dem auch der Intensivsprachkurs an der Universität Hohenheim gehört, fördert der DAAD derzeit 153 Projekte, mit denen bislang rund 2800 Plätze etwa an Studienkollegs oder in Fach- und Sprachkursen der Hochschulen entstanden sind. Sie werden monatlich mit je 420 Euro pro Person gefördert.

In Baden-Württemberg existieren kaum vergleichbare Angebote

Die Plätze sind begehrt. In Hohenheim etwa gibt es bereits eine Warteliste – nicht zuletzt deshalb, weil an anderen Universitäten in Baden-Württemberg noch kaum vergleichbare Angebote existieren. Der Kurs ist konzeptionell auf die Situation junger Flüchtlinge mit akademischen Hintergrund zugeschnitten.

Mit ihrer Klasse übt Katharina Georgi-Hellriegel daher nicht nur die Grammatik. Am Ende des Kurses sollen die Teilnehmer Fachliteratur lesen, ein Referat halten oder eine wissenschaftliche Arbeit auf Deutsch verfassen können. Als Abschluss folgt ein sogenannter Studierfähigkeitstest – ein Test, der auch für Flüchtlinge verbindlich ist. „Ziel des Kurses ist es, mindestens das Niveau B2 zu erreichen“, sagt die Lehrerin– das heißt, dass ein normales Gespräch mit Muttersprachlern ohne größere Anstrengung auf beiden Seiten gut möglich ist.

Um das zu schaffen, lässt Georgi-Hellriegel die Studierenden jeden Morgen eine kurze Nachricht vortragen: „Ob diese aus Deutschland, Syrien oder einem anderen Land kommt, ist völlig egal.“ Über die Beiträge komme man schnell ins Gespräch, sagt sie – das freie Sprechen ist ihr wichtig. Welche Themen die Studierenden auswählen? Fußball, Religion, Gesellschaftliches, Politik. „Natürlich ist auch der Krieg in Syrien ein großes Thema“, sagt sie. Hinter ihr, an der Tafel, zeugen Wörter und Ausdrücke wie „Motivation“, „Down-Syndrom“ und „Menschenkette gegen den Rassismus“ von dem allmorgendlichen Ritual der Klasse.

Auch die Gepflogenheiten in Deutschland stehen auf dem Kursplan

Doch auch kulturelle Unterschiede zwischen den Heimatländern der Geflüchteten und Deutschland, Europa, kommen bei der Übung immer wieder zur Sprache. Dass ein Mann in Deutschland keine vier Frauen heiraten darf, zum Beispiel. Mazen, Hassan und Abdul finden diese Themen gut, finden auch gut, wenn ab und an diskutiert wird. „Man lernt viel über die Menschen hier, und das ist wichtig für die Integration“, sagt Mazen. Das sieht auch Katharina Georgi-Hellriegel so: „Integration“, sagt sie, „funktioniert nur, wenn die jungen Leute nicht nur Sprachkenntnisse, sondern auch Wissen über die Gepflogenheiten in Deutschland erwerben.“

Flüchtlinge im Südwesten - die Serie im Überblick

Flüchtlinge im Südwesten – Die Serie im Überblick

Von Jürgen Bock, Melanie Maier, Siri Warrlich und Hanna Spanhel

Sie flüchten vor Krieg, Diktatur und Armut: Tausende Menschen kommen in diesen Tagen nach Deutschland. Drei davon sind Hassan, Abdul und Sahel aus Syrien. Anfang September 2015 sind sie in Stuttgart aus dem Zug gestiegen. Was ist seither geschehen? Was empfinden Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Deutschland – und wie kommen sie zurecht? Unsere Autoren begleiten die drei jungen Syrer bei ihren ersten Schritten im Land. Ein Langzeitprojekt.

Teil 1 (01.09.2015): Fahrkarte ins Schlaraffenland? Flüchtlinge am Hauptbahnhof Stuttgart. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 2 (10.09.2015): Sieben Tage Deutschland: Besuch in der Landeserstaufnahmestelle Karlsruhe. Von Siri Warrlich und Hanna Spanhel

Teil 3 (12.10.2015): Vokabeln pauken gegen Langeweile: Warten auf das Asylverfahren. Von Melanie Maier, Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 4 (28.10.2015): Leben hinter Absperrgittern: Notquartier in der Turnhalle. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 5 (11.12.2015): Neue Heimat, fremdes Leben: Besuch auf dem Weihnachtsmarkt. Von Melanie Maier und Hanna Spanhel

Teil 6 (21.12.2015): Chaos und Überforderung: Asylantragstellung in Karlsruhe. Von Jürgen Bock und Siri Warrlich

Teil 7 (27.01.2016): Schlüssel zu einer neuen Zukunft: Auszug aus dem Notquartier. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 8 (24.02.2016): Gaisburger Marsch mit Sofa: Einrichten der neuen Wohnung. Von Jürgen Bock und Melanie Maier

Teil 9 (18.05.2016): Verschollen im amtlichen Niemandsland: Verschwundene Pässe von Syrern. Von Jürgen Bock und Hanna Spanhel

Teil 10 (14.06.2016): Wenn der Muezzin nicht mehr ruft: Skepsis gegenüber Muslimen. Von Hanna Spanhel und Siri Warrlich

Teil 11 (10.08.2016): Einer darf bleiben, zwei müssen zittern: Hürden im Asylverfahren. Von Jürgen Bock