Joachim und Mirjam Gutheil spielen mit ihren Kindern David und Emma sowie ihren beiden Pflegekindern aus Afghanistan Foto: factum/Granville

7000 minderjährige Flüchtlinge leben ohne Eltern in Baden-Württemberg. Die meisten sind in Wohngruppen oder Heimen untergebracht. Doch manche finden bei Familien ein neues Zuhause.

Deckenpfronn - Es ist ein ganz normales Bild: Eine sechsköpfige Familie sitzt um den Tisch und beschäftigt sich mit einem Brettspiel. Der fünfjährige David führt die Regie, seine sieben Monate alte Schwester Emma schaut vergnügt zu. Die Eltern Mirjam und Joachim müssen das ein oder andere Mal eingreifen, um die Spielregeln zu erklären. Ab und an wiederholen sie dabei einen Begriff mehrmals und besonders deutlich. Denn die beiden anderen Mitspieler am Tisch passen auf den ersten Blick nicht so recht in die kleine Gruppe und tun sich mit der Sprache schwer. Der 17-jährige Tarik und sein 15 Jahre alter Bruder Farid (Namen von der Redaktion geändert) haben schwarze Haare, dunkle Haut und kommen aus Afghanistan. Und gehören doch wie selbstverständlich dazu.

Die Familie Gutheil aus Deckenpfronn im Landkreis Böblingen hat die beiden Flüchtlinge Anfang März als Pflegekinder bei sich aufgenommen. Als eine von bisher nur wenigen Familien im Land, die sich auf diese Weise um unbegleitete minderjährige Ausländer, sogenannte Uma, kümmern. Schüchtern wirken die beiden Jungen, wenn man sie anspricht. Verlegen richten sie den Blick nach unten. Und beginnen dann doch, über „Mama“ und „Papa“ zu erzählen. „Sie machen mit uns Hausaufgaben und helfen uns bei allem“, sagt Tarik in einer Mischung aus Deutsch und Englisch. Farid hat derweil die kleine Emma auf dem Arm. Mit Mama und Papa meinen die Schüler nicht ihre leiblichen Eltern, die in Afghanistan leben. Mama und Papa sind die Gutheils.

„Am Anfang musste ich schon darüber nachdenken, ob sie mich so nennen sollen“, sagt Mirjam Gutheil. Schließlich sind die beiden, trotz aller ersten Vertrautheit, doch ziemlich fremde Jugendliche. Doch dann haben die beiden Flüchtlinge erzählt, dass es in ihrem Land eine Respektlosigkeit wäre, Erwachsene mit dem Vornamen anzusprechen. Ältere Menschen werden dort nach ihrer Funktion benannt. In diesem Fall eben Mama und Papa. „Wir wollten Pflegekinder, also lassen wir uns jetzt auch darauf ein“, sagt Joachim Gutheil.

Die Flüchtlingsbilder haben die Familie geschockt

Schön wohnt die Familie in einem Neubaugebiet am Rande des Orts. Auf der Straße spielen Kinder. Ein Stückchen Idylle. Und ein heftiger Gegensatz zu dem, was die Gutheils in den Medien über die Flüchtlingskrise mitbekommen. „Das hat uns sehr beschäftigt“, sagt der Vorstand einer IT-Firma. Als in einem Haus im Ort zwölf minderjährige Flüchtlinge untergebracht werden, geht Joachim Gutheil einfach hin und klingelt. Schnell bildet sich ein Helferkreis, der mit den Jugendlichen Fußball spielt oder Eislaufen geht. Doch nach drei Monaten fragen sich die Gutheils, ob das genügt. „Uns geht es gut und wir haben Platz“ sagt der Familienvater. Und seine Frau ergänzt: „Wir haben darüber nachgedacht, ob es angesichts der Lage noch angemessen ist, ein Zimmer leer stehen zu lassen.“

Also ziehen die beiden im Untergeschoss eine Wand hoch, schaffen so eine kleine Einliegerwohnung und gehen aufs Jugendamt zu. Sie müssen ein Führungszeugnis bringen und sich von den Behörden gründlich überprüfen lassen, etwa bei einem Hausbesuch. Kurz darauf ziehen Tarik und Farid ein.

„Sprachlich ist das nicht so einfach“, erzählt Joachim Gutheil. Immerhin: Man kannte sich vorher bereits, wusste, dass die Brüder auf der Flucht von ihrer Familie getrennt wurden, die Eltern und Geschwister daraufhin nach Afghanistan zurückkehren mussten. Verwandte, erzählen die Gutheils, seien anfangs skeptisch gewesen, doch jeder, der die beiden treffe, ändere seine Meinung. „Sie sind super drauf, helfen von alleine viel im Haushalt mit und bringen sich sensationell ein“, sagt der Familienvater. Die eigenen Kinder stören die Pflegegeschwister nicht. Ganz im Gegenteil: „Unser Fünfjähriger war richtig heiß drauf, dass die beiden einziehen. Der sieht das völlig unbefangen und ist der beste Integrationshelfer.“

Reis mit Pistazien als neue Erfahrung

Seither ist das Zusammenleben für alle eine spannende Sache. Tarik besucht eine gewerbliche Schule und lernt dort neben Deutsch auch Kochen. Hin und wieder gibt es jetzt im Hause Gutheil afghanische Spezialitäten. An Reis mit Pistazien musste sich der Hausherr erst gewöhnen, aber er ist auf den Geschmack gekommen. „Für uns alle ist vieles neu“, sagt er.

So mutig wie Familie Gutheil sind nicht viele. Von den 7080 Uma, die derzeit in Baden-Württemberg registriert sind, leben die meisten in betreuten Wohngruppen oder Heimen. „Alle werden komplett im Rahmen der Jugendhilfe betreut“, sagt Kristina Reisinger vom Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS). Dafür seien allein im vergangenen Jahr zu den bestehenden 10 000 Plätzen 2000 weitere geschaffen worden. Wie viele Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien untergebracht sind, wisse man nicht: „Das liegt in den Händen der Jugendämter vor Ort. Wir wissen aber, dass die Kreise zuletzt vermehrt um Pflegefamilien geworben haben.“

In Stuttgart leben derzeit 316 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. „15 davon sind in Pflegefamilien“, sagt Lucas-Johannes Herzog vom Jugendamt. Oft werden Geschwister oder Freunde gemeinsam untergebracht, deshalb handelt es sich bisher nur um eine Handvoll Familien. Doch langsam würden es mehr. „Wir legen dieselben Voraussetzungen wie für alle Pflegekinder an“, so der Leiter der Abteilung Erziehungshilfen. Ob ein amtlicher Vormund beteiligt ist oder die Pflegeeltern die Vormundschaft bekommen, variiere, sagt Herzog. Die Bestellung von amtlichen Vormündern sei derzeit aber schwierig, weil sie mit der Vielzahl der Fälle an ihre Grenzen stießen.

Die Voraussetzungen sind nicht überall gleich

Letztendlich sind die Aufnahmevoraussetzungen in jedem Stadt- und Landkreis etwas verschieden. Bundesweit gefordert ist nur das erweiterte Führungszeugnis. Auch die finanziellen Sätze sind einheitlich geregelt: In Baden-Württemberg gibt es für einen Jugendlichen über zwölf Jahren 945 Euro Pflegegeld im Monat.

Nicht immer läuft das neue Familienleben glatt. „In einigen Fällen haben wir die Jugendlichen auch wieder aus der Pflegefamilie herausgenommen“, weiß Herzog. Das kann daran liegen, dass man sich nicht versteht – oder aber auch einfach daran, dass Verwandte der Flüchtlinge auftauchen und sie zu sich nehmen wollen.

„Finanziell ist das keine Belastung. Das könnte jeder machen, der genug Platz hat“, sagt Joachim Gutheil. Die Familie erhalte Geld für den Unterhalt oder notwendige Möbelstücke, aber auch Unterstützung bei allen Fragen: „Die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt klappt hervorragend. Alles ist sehr gut organisiert, das hat uns auch ein Stück weit überrascht.“

Die Vormundschaft liegt beim Jugendamt

Die Vormundschaft für Tarik und Farid haben die Gutheils bisher nicht übernommen. „Sie liegt beim Jugendamt. Man kann einen Antrag stellen, wir sind aber nicht dazu ermutigt worden“, sagt Mirjam Gutheil. Ob das gut oder schlecht ist, darüber ist sich die Familie noch nicht so ganz im Klaren. Denn die Regelung bringt sowohl Vor- als auch Nachteile. „Manchmal haben wir einen Zusatzaufwand. Wenn wir in Urlaub fahren wollen, müssen wir vorher fragen, beim Arzt dürfen wir nicht über Behandlungen entscheiden“, so die junge Mutter. Andererseits trage man weniger Verantwortung und sei für vieles nicht haftbar.

Inzwischen hat die deutsche Pflegefamilie auch die leiblichen Eltern der beiden Brüder kennengelernt – über ein Internettelefonat mit Ton und Bild. Eine merkwürdige Situation ist das gewesen. Mit Händen und Füßen haben die Erwachsenen versucht, sich auszutauschen. Dabei sei ihnen offenkundig Sympathie entgegengebracht worden, erzählen die Gutheils. Was man in Afghanistan tatsächlich von der neuen Konstellation hält, können sie freilich nur erahnen. Zu groß ist die Sprachbarriere. „Wir haben jeden Tag Kontakt zu unserer Familie“, sagt Tarik. Sie richte regelmäßig Grüße und Dank nach Deutschland aus.

Ob die leiblichen Eltern vielleicht irgendwann selbst vor der Tür stehen? Oder andere Verwandte? Die Gutheils wissen es nicht. Sie sind fest entschlossen, sich so lange um Tarik und Farid zu kümmern, wie es notwendig ist. Auch über deren Volljährigkeit hinaus. „Bis sie eine Ausbildung gemacht haben und auf eigenen Füßen stehen“, sagt Joachim Gutheil. Wie auch immer es kommen mag: Er und seine Frau werden für immer Papa und Mama bleiben für die beiden Jungen mit den schwarzen Haaren und der dunklen Haut.

Hintergrund: Uma

Hinter der Abkürzung Uma verbirgt sich der Begriff „Unbegleitete minderjährige Ausländer“. Damit sind in erster Linie Flüchtlinge gemeint, die noch nicht volljährig sind und alleine nach Deutschland kommen. Um sie müssen sich die Behörden in besonderer Weise kümmern, weil sie nicht einfach in gewöhnlichen Asylbewerberquartieren untergebracht werden können.

Derzeit leben 67 416 Uma in Deutschland. Die Zahl ist zuletzt geringfügig gesunken, weil etwas weniger junge Flüchtlinge gekommen sind und einige, die bereits hier leben, die Volljährigkeit erreicht haben. In Baden-Württemberg sind im Moment 7080 Uma registriert. Das Land erfüllt damit die vorgesehene Quote nur zu 81,6 Prozent, der Wert hat sich zuletzt jedoch konstant verbessert.

Von den Uma, die seit vergangenem November nach Baden-Württemberg gekommen sind, waren 97 Prozent männlich. Der weitaus größte Teil war zwischen 14 und 17 Jahre alt. Rund die Hälfte der Jugendlichen kam aus Afghanistan. (jbo)