Die Gefangenschaft hat sie traumatisiert: IS-Opfer Amscha mit ihrem Baby Foto: Karim El-Gawhary

Sie wurde von den Terrormilizen des IS verschleppt und wie ein Stück Vieh weiterverkauft. Die Jesidin Amscha berichtet von ihrer 25-tägigen Gefangenschaft und ihrer Flucht.

Sie wurde von den Terrormilizen des IS verschleppt und wie ein Stück Vieh weiterverkauft. Die Jesidin Amscha berichtet von ihrer 25-tägigen Gefangenschaft und ihrer Flucht.

Kairo - „Ich wünschte, ich wäre tot. Oft habe ich in den letzten Wochen daran gedacht, mir das Leben zu nehmen“, erzählt Amscha mit monotoner Stimme, während sie  auf den Boden starrt. Die junge Jesidin, die von den Milizen des Islamischen Staats (IS) verschleppt und die in der Stadt Mossul wie ein Stück Vieh für umgerechnet zwölf Euro weiterverkauft wurde, streichelt ihr Baby, das sie auf dem Schoß hat.

„Das Kind und die Tatsache, dass ich ein weiteres in meinem Bauch habe, ist der einzige Grund, warum ich mich noch nicht aufgehängt habe, denn ohne mich könnten sie nicht weiterleben“. Amscha spricht völlig teilnahmslos – so, als würde sie nicht über sich, sondern über jemand weit Entfernten reden. Dass sie auf einer Matratze in einem ärmlichen jesidischen Dorf in der Nähe der kurdischen Stadt Dohuk sitzt und ihre Geschichte überhaupt noch erzählen kann, verdankt sie ihrer wundersamen Flucht nach einem 25-tägigen Albtraum.

Als die Dschihadisten Anfang August begonnen hatten, ihr Dorf mit Mörsern zu beschießen und näher rückten, musste sie zusammen mit anderen Bewohnern nachts zu Fuß flüchten. Vier Kilometer vor dem Dorf sahen sie zwei Fahrzeuge mit bewaffneten Männern. „Wir dachten, es seien kurdische Peschmerga und wir seien gerettet, also liefen wir auf sie zu. Es war dunkel.  Als wir die schwarzen Fahnen der IS sahen, war es schon zu spät“, erinnert sie sich. Dann ging alles sehr schnell. „Sie haben die männlichen Flüchtlinge, die über 14 Jahre alt waren, vom Rest getrennt und ihnen einem nach dem anderen vor unseren Augen in den Kopf geschossen, darunter war auch mein Mann,  mein Bruder, unser Vater und der Onkel“, erzählt sie. „Ich weiß nicht mehr, wie viele es waren, aber ich erinnere mich an das Bild, als sie in ihrem Blut auf dem Boden lagen.“

Jesidische Frauen als legitime Beute

Die Frauen und Kinder wurden dann in das benachbarte sunnitisch-arabische Dorf Siwa Scheich Kahdra gebracht, darunter Amscha, ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerin. Für die IS-Dschihadisten stehen die Jesiden ganz unten auf ihrer verschrobenen religiösen Skala, und die jesidischen Frauen gelten als legitime Beute im Kampf gegen die „Ungläubigen“.

Ein paar Tage später wurden die Frauen und Kinder in die nicht weit entfernte Stadt Mossul gebracht, die von den Kämpfern der IS erobert worden war. In einem Saal hat man sie zusammengepfercht und wie Vieh auf einem Markt feilgeboten.  Je nach Alter und Schönheit wurden die Frauen für umgerechnet sechs bis zwölf Euro verkauft. Bewaffnete Kämpfer gingen im Saal umher und begutachteten die Gefangenen. „Sie haben uns überall angefasst und uns das Tuch vom Kopf gerissen, manchen Frauen haben sie die Kinder weggenommen. Viele Frauen wurden geschlagen und an den Haaren nach draußen gezogen, wenn sie sich geweigert haben, mitzukommen“,  berichtet Amscha.

Zunächst wurde ihre Schwägerin „verheiratet“. Amscha sagt tatsächlich „verheiratet“  denn  das Wort „verkaufen“ ist zu schlimm, als dass es über ihre Lippen kommt.  Zu ihrer Schwägerin hat sie seitdem jeden Kontakt verloren. Dann kam Amscha dran. Ein bewaffneter Kämpfer aus Mossul kaufte sie, fesselte ihr die Arme auf den Rücken und zerrte sie zusammen mit ihrem Kind aus dem Saal. Amscha war 25 Tage lang mit ihrem Baby eine Gefangene.

Im Kreise der Familie ihrer Schwester, die während des Gesprächs mit im Zimmer sitzt, führt sie nicht näher aus, was in dieser Zeit geschehen ist. Sie erzählt lediglich, dass sie ständig geschlagen wurde. Und immer wieder sei ihr gedroht worden, sie an einen Syrer oder einen Saudi weiterzuverkaufen, wenn sie sich nicht gefügig zeige. Immer wieder wurde ihr das Kind weggenommen. Als Amscha dann in einem anderen Zimmer hinter verschlossener Tür mitbekam, dass man tatsächlich plane, sie an einen Syrer zu verkaufen, entschloss sie sich zur Flucht.

Die Tablette unter der Zunge versteckt

Einer ihrer Peiniger kam in das Zimmer und gab ihr eine Tablette, die sie schlucken sollte. „Ich hatte Angst, dass es eine Droge war, die mich gefügig machen sollte. Ich habe sie vor ihren Augen in den Mund genommen und ein Glas Wasser getrunken. Doch die Tablette hatte ich die ganze Zeit unter der Zunge. Als die Männer weg waren, habe ich die Tablette ausgespuckt.“ Nachts hat sie dann gewartet, bis ihr Baby eingeschlafen war, damit es nicht schreit. Sie fand eine Eisenstange im Schrank und brach leise die Türe auf. Draußen im Hof schliefen drei der Bewaffneten – ganz tief. „Nachdem ich das sah, nahm ich vorsichtig mein Baby auf den Rücken und floh.“  Vier Stunden lang irrte sie durch die Straßen von Mossul, immer wieder versteckte sie sich – aus Angst, entdeckt zu werden. 

Schließlich wurde sie von einem alten Mann angesprochen, der sie fragte, was sie allein nachts auf der Straße mit dem Kind mache. In gebrochenem Arabisch – zu Hause wurde nur kurdisch gesprochen – antwortete Amscha. Später stellte sich heraus, dass ihr Retter eine wichtige Persönlichkeit in der sunnitisch-arabischen Gesellschaft der Stadt war. Er nahm die Jesidin zu sich nach Hause, wo er sie vier Tage beherbergte.

Das, was die IS tue, „hat nichts mit unserem Islam zu tun“, entschuldigte sich der Vater von vier Töchtern bei ihr. Der alte Sunnit heckte einen Plan aus. Erst rief er bei Amschas Schwester im kurdischen Dohuk an und erklärte, dass Amscha in Sicherheit sei, dann steckte er die Jesidin in einen Vollschleier, der nur ihre Augen freiließ und gab ihr den Ausweis seiner verheirateten Tochter, ebenfalls Mutter eines Babys.

Dann marschierten die drei unter Lebensgefahr nach Kirkuk, das von den kurdischen Peschmerga kontrolliert wird, aber ganz nah am IS-Territorium liegt. Die nordirakische Stadt war der einzige Ort, an dem man versuchen konnte, die Frontlinie zwischen dem IS und den Peschmerga zu überschreiten.

Der letzte IS-Posten wollte sie nicht passieren lassen – ein paar hundert Meter weiter würden die kurdischen Peschmerga ja auf sie schießen. Der alte Araber flehte den Posten an, dass sein vermeintlicher Enkel Krebs habe und dringend Medizin brauche, die es nur in Kirkuk gebe. Nach vier Stunden gab der IS-Posten schließlich den Weg frei. Aber nun kam der gefährlichste Moment der Flucht, denn im Niemandsland zwischen beiden Seiten wird in der Regel auf alles geschossen, was sich bewegt. „Wir sind ganz langsam losgegangen. Der alte Mann hat das islamische Glaubensbekenntnis zitiert und ist vorausgegangen“, berichtet Amscha.

Schüsse blieben zum Glück aus. Doch als die drei vor dem kurdischen Posten auftauchten, forderte ein Wachmann den Alten auf, sich auszuziehen. Denn immer wieder hatten sich Selbstmordattentäter mit einem Sprengstoffgürtel an den Peschmerga-Posten in die Luft gejagt. Der alte Mann erklärte aus der Ferne, dass er eine junge jesidische Frau dabei habe, und diese zu ihrer Familie nach Kirkuk bringen möchte, und dass er versucht habe, diese Übergabe mit den Peschmergas zu koordinieren. Der Posten war offensichtlich informiert und telefonisch wurde ein Verwandter, der bereits in Kirkuk wartete, herbeizitiert.

Gefangenschaft und Flucht haben Amscha traumatisiert

Amscha wurde aufgefordert, ihren Schleier abzulegen, um von dem Verwandten identifiziert werden zu können. Nach über drei Wochen Gefangenschaft und nach einer nervenaufreibenden Flucht war die Jesidin Amscha wieder eine freie, wenngleich traumatisierte Frau.  „Während der Gefangenschaft habe ich oft  gedacht, mich umzubringen“, wiederholt sie.

In diesem Moment fließen dem sonst hartgesottenen kurdischen Übersetzer die Tränen übers Gesicht. Er kann kaum mehr ihre Worte wiedergeben. „Ich habe mir immer wieder gesagt, ich muss dafür sorgen, dass mein Kind nicht in die Hände dieser Verbrecher fällt und selbst zu einem Verbrecher wird und dass mein Sohn später weiß, wer sein Vater war und wer seine Mutter ist“, sagt Amscha. „Ich hatte keine Wahl, ich musste das aushalten“, murmelt sie. Dann steht sie auf, nimmt ihr Baby und geht in ihr Zimmer, das sie seit Wochen immer nur kurz verlassen hat. Diesmal hat sie es länger draußen ausgehalten. Es war ihr wichtig, der Welt ihre traurige Geschichte zu erzählen.