Der Goldene Löwe geht an den Psychothriller „Joker“: Regisseur Todd Phillips mit Hauptdarsteller Joaquin Phoenix (rechts). Foto: dpa

Die 76. Internationalen Filmfestspiele von Venedig haben auf ganzer Linie überzeugt, mit Todd Phillips „Joker“ als würdigem Gewinner des Goldenen Löwen. Dass der Große Preis der Jury an Roman Polanski geht, dürfte aber für Diskussionen sorgen.

Venedig - Die „Fridays for Future“ haben den Lido erreicht! Ein paar Hundert Jugendliche – viele extra angereist – zogen über die Badeinsel, trotz strömenden Regens und heftiger Windböen. Damit nicht genug. Am Samstag waren die Schüler erneut unterwegs, früh schon, um den Roten Teppich zu besetzen. Ihr Protest richtete sich vornehmlich gegen die Kreuzfahrtschiffe, die in Venedig für eine enorme Umweltbelastung sorgen. Wegen der Proteste wurden zunächst die Zugänge zu den Kinos gesperrt, dann gab es Entwarnung. Pünktlich wurde begonnen, was auf alle Vorstellungen der 76. Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica zutraf – von der zehnminütigen Verspätung bei „Joker“, dem Gewinner des Goldenen Löwen, einmal abgesehen.

Kaum Wünsche offen ließ in diesem Jahr die Filmauswahl. Neben Kino als Kunst und Unterhaltung kam die Filmhistorie nicht zu kurz; in der Reihe „Venezia Classici Restauri“ kommen aufwändig restaurierte Klassiker zur Aufführung. Für Cineasten ein Highlight. Martin Scorseses Musical „New York, New York” (1977) war in der ursprünglichen, 163 Minuten langen Fassung zu sehen. Eine Hommage an die Goldene Zeit der Traumfabrik, in warmen Farben von László Kóvacs („Easy Rider“) fotografiert. Robert De Niro spielt in schroffer „Taxi Driver“-Manier einen Jazz-Trompeter, mit Sängerin Liza Minnelli führt er eine komplizierte Beziehung. Kein Happy End, dafür swingende Songs.

Es ging um die Wahrheit

Harmonisch zusammengestellt war der Wettbewerb, Eröffnungs- und Abschlussfilm bildeten eine Klammer. Um die Wahrheit ging es, „La vérité“ hieß entsprechend Kore-eda Hirokazus Opener. Zum Abschluss lief „The Burnt Orange Heresy“ von Giuseppe Capotonti: Ein Kunstsammler – Rolling Stone Mick Jagger begeisterte die Fans –, ein Kunstkritiker (Claes Bang) und dessen Geliebte (stark: Elizabeth Debicki) schließen einen faustischen Pakt, um einem legendären Maler (Donald Sutherland) ein Bild abzuluchsen. Das Resultat ist ein böser Neo-Noir-Thriller mit Patricia-Highsmith-Anklängen vor malerischer Comer-See-Kulisse.

Um „Family Business“ in der Welt der Kunst ging es in vielen Produktionen, die sich auf unterschiedliche Art mit (schwierigen) Familienverhältnissen auseinandersetzten. Etwa in Noah Baumbachs „Marriage Story“, Szenen einer Ehe mit Scarlett Johannson und Adam Driver, zwei US-Intellektuelle im wortreichen Sorgerecht-Dauerclinch. Noch wohlhabender ist der Landbesitzer-Klan in Taigo Guedes „The Domain“, einer Gutshof-Chronik von der Militärdiktatur über die „Nelkenrevolution“ bis hin zur Dritten Portugiesischen Republik.

Mit gesellschaftskritischem Unterton ausgebreitet beleuchten Familiengeschichten die große Geschichte. Am unteren Ende der sozialen Leiter leben die Protagonisten von „Gloria Mundi“. Regisseur Robert Guédiguian („Das Haus am Meer“) zieht’s einmal mehr nach Marseille mit seinen Stammschauspielern, darunter Ehefrau Ariane Ascaride, die als beste Darstellerin prämiert wurde in diesem Drama um Gnadenlosigkeit und Verelendung der Wohlfahrtsgesellschaft. Zu sehen ist die Studie einer Arbeiterfamilie, die sich nicht unterkriegen lassen will.

Freude: Noch ein Preis für Italien

Wie Schülerin Milla (Eliza Scanten ist eine echte Entdeckung) aus „Babyteeth“, feinfühlig pendelt Shannon Murphys Film zwischen Tragödie und Komödie. Krebskrank ist die tapfere Heldin, hat nur noch kurz zu leben. Aber aufgeben kommt nicht in Frage. Sie will Spaß haben, sich fühlen, noch etwas erleben. Einen Begleiter findet sie in einem drogenabhängigen, 23-jährigen Punk, furios interpretiert von Toby Wallace, ausgezeichnet mit dem Marcello-Mastroianni-Darstellerpreis. Luca Marinelli gewann die Coppa Volpi als bester Hauptdarsteller für seine Rolle in „Martin Eden“, einer biederen Adaption von Jack Londons autobiografischem Roman, für die Pietro Marcello die Handlung von Kalifornien nach Neapel verlegte.

Freude herrschte im Festivalpalast, als der Spezialpreis der Jury an ein weiteres italienisches Werk ging: an die in Sizilien verortete ’Ndrangheta-Satire: „La mafia non è più quella di una volta“ von Franco Maresco, mit der Fotografin Letizia Battaglia als zentraler Figur, die unermüdlich gegen das organisierte Verbrechen ins Feld zieht. Die Entscheidung ist umstritten, vielleicht politischer Korrektheit geschuldet. Im Gegensatz zum Großen Preis der Jury, der für „J’accuse“ an Roman Polanski ging. Der wegen eines nicht ausgesetzten Strafbefehls wegen angeblicher Vergewaltigung abwesende Filmemacher hat die Dreyfuss-Affäre packend umgesetzt. Als bester Regisseur wurde Roy Andersson zu Recht geehrt. In dem für den schwedischen Altmeister typischen, von langen Einstellungen und absurder Komik geprägten Stil räsoniert er in „Om det oändliga“ (Über die Unendlichkeit) über Religion und Krieg, Banalität und Brutalität, traumgleich, schwebend. Eine gute Mischung – wie das ganze Festival.