Schon seit Jahrzehnten treffen sich rund um das Stuttgarter Wahrzeichen Leute zum Cruising, also zum unverbindlichen, anonymen Geschlechtsverkehr. Foto: dpa/Christoph Schmidt

Das neuartige Coronavirus überträgt sich vermutlich nicht durch Geschlechtsverkehr, allerdings reicht einfache Nähe bereits aus. Deshalb sehen einige den Sex-Treff am Stuttgarter Fernsehturm kritisch.

Stuttgart-Degerloch - Als unbedarfter Spaziergänger fällt es einem erst auf den zweiten Blick auf: Männer, die in der öffentlichen Toilette am Fernsehturm etwas länger verschwinden, als man normalerweise an einem solchen Ort bleiben würde. Tatsächlich ist es längst ein offenes Geheimnis, dass das Stuttgarter Wahrzeichen ein Treffpunkt für die männliche Homosexuellen-Szene ist, konkret: die öffentlichen Toiletten und der umliegende Wald. „Auch zurzeit liegen da jede Menge Kondome herum“, berichtet ein Mann, der als Hundebesitzer oft rund um den Fernsehturm und das Gazi-Stadion spazieren geht. „Und wenn ein Mann auf die öffentliche Toilette dort geht, folgt direkt ein anderer Mann.“ Er halte diese Treffen in Zeiten von Corona für gefährlich, „und ich finde es auch nicht in Ordnung, wenn Spielplätze gesperrt werden, aber sich Fremde zum Sex treffen dürfen“.

Polizei zeigt Präsenz am Fernsehturm

Verboten aufgrund der Infektionsgefahr sind solche Treffen nicht – zumindest solange es sich nicht um Prostitution handelt. Nach derzeitigem Wissen überträgt sich das neuartige Coronavirus auch nicht über Geschlechtsverkehr, allerdings reichen winzige Tröpfchen beim Küssen, Ausatmen und Sprechen bereits aus, um sich zu infizieren. Wer anderen Menschen nahekommt, kann sich also schwer vor dem Virus schützen. Und das Risiko erhöht sich freilich, wenn Menschen auf engem Raum zusammenkommen – also theoretisch auch beim Sex in einer Toilettenkabine oder im Wald.

Trotzdem schiebt die Polizei solchen Treffen keinen Riegel vor: „Dass sich die homosexuelle Szene dort trifft, gibt es schon seit den 1970er Jahren“, sagt ein Sprecher der Stuttgarter Polizei. „Und trotz der Kontaktsperre darf man sich ja derzeit noch zu zweit treffen“.

Weil es jüngst jedoch Beschwerden aus der Bevölkerung gegeben habe, habe die Polizei am Fernsehturm Präsenz gezeigt. „Wir konnten nichts in Richtung von Prostitution oder Erregung öffentlichen Ärgernisses feststellen“, sagt der Sprecher. „Meistens treffen sich die Männer dort privat in der Dunkelheit.“ Und – das betont der Polizeibeamte – man wollte durch diese Kontrollen auch keinesfalls die Homosexuellen diskreditieren.

Der Mensch braucht keinen Sex – aber Berührungen

Die Stuttgarter Psychologin und Sexualtherapeutin Claudia Huber hat noch eine ganz andere Sicht auf die Dinge: „Ich persönlich kann nachvollziehen, dass sich auch aktuell Menschen zum Sex treffen.“ Weil es keine klare Ansage von der Politik gebe, wann die Kontaktsperren aufgehoben werden, herrsche viel Unsicherheit, aber auch Einsamkeit. Die Menschen sehnten sich gerade jetzt nach Berührungen, „und für diejenigen, die dazu aktuell keine Möglichkeit haben, ist das belastend“. Seitens der Politik werde dies nicht genügend bedacht: „Die meisten Politiker, die gerade Entscheidungen treffen, haben eine Familie und denken nicht darüber nach, was die Einschränkungen für Singles bedeuten.“

Es sei letztlich eine Gratwanderung, auf der sich jeder Einzelne gerade befinde: Was ist individuell, und was ist gesellschaftlich tragbar? „Um zu überleben, braucht der Mensch keinen Sex, aber er braucht Berührungen“, betont Huber. Wer Single ist, habe es als Frau diesbezüglich übrigens in normalen Zeiten einfacher wie als Mann. „Weil sich Frauen auch in Freundschaften meist öfter umarmen und berühren, können weibliche Singles in der Regel länger ohne sexuelle Begegnungen auskommen als Männer“, sagt Huber.

Auch auf Tinder verabreden sich Menschen

Auch mehrere Studien haben inzwischen bewiesen, dass Menschen Körperkontakt zu anderen brauchen. Bekommen Kinder keine Berührungen, sterben sie sogar nach einer gewissen Zeit. Erwachsene seien diesbezüglich leidensfähiger, aber auch bei ihnen hätten ausbleibende Berührungen Auswirkungen, sagt Huber. „In Alten- und Pflegeheimen, wo derzeit kein Besuch von außen erlaubt ist, sterben deshalb gerade viele Menschen schneller, obwohl sie gesundheitlich eigentlich noch etwas durchhalten würden. Soziale Kontakte sind lebenserhaltende Maßnahmen“, betont die Psychologin.

Dieses menschliche Bedürfnis nach Nähe erkläre, warum sich auch auf Datingplattformen wie Tinder trotz des Coronavirus und des Kontaktverbots Fremde miteinander verabreden würden. „Und auch da kann ja niemand überprüfen, ob die Menschen tatsächlich nur mit anderthalb Metern Abstand zueinander spazieren gehen“, gibt Claudia Huber zu denken.