Der tägliche Umgang mit den Ponys macht den Kindern im Elsental Spaß. Foto: Lichtgut/Zweygarth

Benjamin ist vor zehn Jahren als Extremfrühchen auf die Welt gekommen. Heute ist er Förderschüler. Auf der Jugendfarm Elsental, bei der Inklusion eine besondere Rolle spielt, ist das egal. Ein Besuch bei der Ferienbetreuung.

Stuttgart - Sieben Jungen beugen sich über ein großformatiges Blatt Papier, das auf einem überdachten Tisch liegt, in den Händen Pinsel, neben sich Wikingerbücher. Einer stimmt ein Lied an: „Ich hab’ Uran im Urin“. Alle singen mit, auch die Brüder Benjamin und Julius. Das Bild wird immer bunter. Wikingerschiffe, bunte Segel, Wappen und Häuser entstehen. Dann legt Benjamin seinen Pinsel zur Seite, läuft zu seiner Mutter, die (ausnahmsweise, wegen der Journalistin) ein paar Meter entfernt auf einer Bank sitzt. „Ich bin empört“, sagt der Zehnjährige. „Da hat einer Flammen an die Galeere gemalt.“ Er kuschelt sich kurz auf ihren Schoß. Schon ist es wieder gut. Er läuft zurück zu den anderen, greift sich wieder den Pinsel, malt weiter.

Es ist das erste Mal, dass die Meißners (Familienname geändert) Benjamin und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder während der Sommerferien für zwei Wochen in die Betreuung der Jugendfarm Elsental geben. In in den Jahren zuvor haben sie sich immer anders beholfen. Sie sind froh, diese besondere, bunte Oase gefunden zu haben, die allen offensteht: ob es sich um ein Inklusionskind handelt wie Benjamin, der als Förderschüler eine Stuttgarter Grundschule besucht, oder ein „normales“ Kind wie Julius. „Das ist hier ein Miteinander, kein Nebeneinander“, schwärmt Violetta Meißner. Im Hintergrund führen Mädchen Ponys Richtung Reitplatz, irgendwo schreit ein Esel. Ältere Kinder haben eine Menschenschlange gebildet und führen sich, den Arm immer auf der Schulter des Vordermanns, mit geschlossenen Augen über das Gelände.

Ende September läuft finanzielle Förderung aus

„Besondere Kinder gab es bei uns schon immer“, sagt Rochus Zimmermann, der die Feriengruppe von Benjamin und Julius gemeinsam mit der Helferin Marlene Fuchs betreut und seit 17 Jahren auf der Jugendfarm in Kaltental arbeitet. Doch im Jahr 2012 hat das Thema Inklusion im Elsental einen Schub bekommen. Der Kommunalverband für Jugend und Soziales hat auf der Farm ein Modellprojekt für drei Jahre finanziert, um Inklusionsbarrieren zu identifizieren, Angebote weiterzuentwickeln und Ergebnisse zu bekommen, die beispielgebend für andere Farmen und Aktivspielplätze sind. Anschließend hat die Glücksspirale ein Jahr Geld gegeben, doch die Förderung läuft Ende September aus. „Inklusion kostet Geld“ sagt Violetta Meißner, die hofft, dass sich für die Zeit ab Oktober eine Lösung findet. Ihren Kindern hätten die Wochen im Elsental mitten in der Natur sehr gutgetan.

Benjamin ist ein verträumter Junge, der Hörspiele und das Singen liebt, sich aber mit dem Lernen und mit Hindernissen schwer tut. Er ist, wie er ist, weil er vor zehn Jahren viel zu früh auf die Welt kam: als sogenanntes Extremfrühchen in der 26. Woche, mit gerade mal 460 Gramm. Eine Hirnblutung und eine Augenoperation musste der Kleine in seinen ersten Lebenswochen unter anderem überstehen. Viele Jahre stand die Sauerstoffflasche jede Nacht am Bett. Wenn er erkältet ist, braucht er sie auch heute noch.

Auf der Jugendfarm wächst der weiterhin sehr zarte Junge über sich hinaus. Da schiebe er sogar freiwillig die schwere Schubkarre, erzählt seine Mutter, und säge fröhlich an seinem Wikingerschwert – Wikinger ist das Motto der Gruppe.

Nach der Anmeldung zur Ferienbetreuung hat sie einen sehr detaillierten Fragebogen zu Benjamin zugeschickt bekommen, damit die Einrichtung vorbereitet ist. Darauf stand zum Beispiel auch, dass man angeben sollte, was das Kind kann, aber vielleicht gerne vermeidet, selbst zu tun. Eine Konsequenz des Fragebogens war auch, dass die Brüder in den ersten Tagen immer als erste aus der Gruppe zum Händewaschen und Essen gehen konnten – um Benjamin wegen aufkommender Hektik nicht zu überfordern. Inzwischen sei das gar nicht mehr nötig, wie die Helferin Marlene Fuchs berichtet.

Der Bruder tut sich schwerer, Freunde zu finden

Die anderen Kinder aus der Gruppe wissen, dass Benjamin schon zehn ist, statt sechs bis neun, wie sie. Aber sie wissen nicht, dass er ein Förderkind ist. „Das fällt auch nicht auf“, meint die 22-Jährige. Manchmal brauche er mehr Ruhe, mache bei wilden Spielen nicht mit, zum Beispiel bei Zombieball: Dabei geht es darum, die anderen mit dem Ball abzuschießen. Darauf hat er keine Lust.

Rochus Zimmermann ist aufgefallen, dass auch unter den angeblich „normalen“ Kindern oft auffällige Kinder seien mit besonderem Bedarf. Teils sagten die Eltern bei der Anmeldung nichts, weil sie offenbar Angst hätten, sonst ohne Betreuung dazustehen. „Dann kommt erst im Laufe der Woche heraus, dass da etwas ist“, sagt der gelernte Landschaftsarchitekt. Violetta Meißner kann sich vorstellen, dass manche Eltern nicht wahrhaben wollen, dass ihr Kind anderen hinterher ist oder doch nicht alles aufgeholt hat, wie man vielleicht gemeint hat.

Sie hat sich vor Beginn der Betreuung sogar fast mehr Sorgen um Julius, den Gesunden, gemacht. Der Achtjährige ist ausgesprochen schüchtern. Seinem Bruder Benjamin falle es viel leichter, Freunde zu finden. Er geht einfach auf die anderen zu. Doch auch Julius hat das Elsental verändert, freut sich die Mutter. „Es tut ihm gut, dass er Hilfestellung kriegt“, sagt die 47-jährige Stuttgarterin, und meint diesmal ihren gesunden Sohn. „Er ist hier aufgeblüht wie eine Sonnenblume.“

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.serie-ausprobiert-reitstunde-im-elsental-auf-die-plaetze-pferdig-los.3913b802-1fdb-496c-a216-7bcf081e6d33.html