Kann der ländliche Raum, hier Rottenburg am Neckar, die Probleme der Ballungszentren lösen? Bayern zum Beispiel setzt darauf. Foto: KNA

Tausende Landesbeamte pendeln nach Stuttgart und Karlsruhe: Ist das im Zeitalter der digitalen Verwaltung noch notwendig?

Stuttgart - Die FDP rechnet mit einer Linderung großstädtischer Verkehrs- und Wohnungsprobleme, wenn Baden-Württemberg seine Verwaltung stärker in ländliche Räume verlagert. „Wieso lassen wir in Zeiten von elektronischer Aktenführung, Daten-Clouds und Video-Konferenzen mehrere Tausend Landesbedienstete fünf Mal wöchentlich in die Innenstädte von Stuttgart oder Karlsruhe einpendeln, wenn zumindest ein Teil von ihnen tageweise von ihren Wohnorten oder von Büros in ländlichen Mittelzentren aus arbeiten könnte?“, sagte der Fraktionssprecher für ländliche Räume, Klaus Hoher, unserer Zeitung. Die Digitalisierung biete die Chance, Baden-Württembergs Raumordnung neu zu denken.

Hoher fordert, die Erfahrungen aus Bayern und Hessen zu prüfen, wo bereits seit einiger Zeit Behörden aus Ballungszentren wie München oder Frankfurt in kleinere Städte verlagert werden. In Bayern zum Beispiel sind bereits Teile des Gesundheitsministeriums nach Nürnberg gezogen. Bis 2025 sollen laut Ministerpräsident Markus Söder (CSU) rund 1500 Arbeitsplätze aus München in strukturschwache Regionen verlagert werden. Hessen will rund 500 Arbeitsplätze verschieben und damit vor allem die kleinen Finanzämter auf dem Land stärken.

FDP: Dem ländlichen Raum helfen

Die Landtags-FDP fordert vor allem, die Möglichkeiten der digitalen Verwaltung besser zu nutzen. Hoher: „Grün-Schwarz versteht die Digitalisierung anscheinend nur als technische Aufrüstung des Landes. Als Politiker aus dem und für den ländlichen Raum hingegen sehe ich in der Digitalisierung auch die Chance, unsere Lebensweise räumlich und zeitlich neu zu denken.“ Dies biete die Möglichkeit, dem Ausbluten und Überaltern ländlicher Räume entgegenzuwirken, sagt der Abgeordnete und verweist auf die Antwort der Landesregierung auf eine Große Anfrage seiner Fraktion.

Danach profitieren einige ländliche Kreise keineswegs von dem allgemeinen Bevölkerungswachstum, sondern verlieren in den nächsten Jahren Einwohner. So sagt die Prognose der Region Nordschwarzwald einen Rückgang bis 2035 voraus. Die Antwort der Landesregierung zeigt aber auch, dass ländliche Regionen technisch oft gar nicht in der Lage sind, die digitalen Möglichkeiten zu nutzen. So spiegelt die Statistik der Breitbandversorgung gravierende Lücken beim schnellen Internet im Schwarzwald, in Oberschwaben oder auf der Alb.

Es fehlt an Platz und Breitband

Eine Behördenverlagerung à la Bayern würde laut Landesregierung aber auch am Platzmangel scheitern. „Das Land Baden-Württemberg verfügt derzeit in der Fläche nicht über Behördenliegenschaften mit Unterbringungspotenzial zur Umsiedlung von Landesbehörden aus dem Ballungszentren oder für behördliche Coworking-Spaces-Angebote“, heißt es in der Antwort. Mit Letzterem sind Räumlichkeiten samt Büroinfrastruktur gemeint, bei denen sich gewerbliche oder behördliche Nutzer einmieten können. Baden-Württemberg fördere solche Mehrfunktionshäuser bereits über das Entwicklungsprogramm Ländlicher Raum, heißt es weiter. Möglicherweise ergäben sich dadurch ja neue Erkenntnisse, die sich auf die Landesverwaltung übertragen lassen.

Im Grunde hält die Landesregierung aber nicht viel von dem Vorschlag, behördliche Kapazität in den ländlichen Raum zu verlagern. Begründung: Es gibt sie dort schon. „Eine Stärke Baden-Württembergs ist die dezentrale Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur“, schreibt Agrarminister Peter Hauk in der Antwort. Die Dezentralität zeige sich auch an der derzeitigen Behördenstruktur mit einer Präsenz der Landesbehörden in der gesamten Fläche. Eine Verlagerung wie in Bayern oder Hessen sei deshalb „derzeit nicht notwendig“. Zum Beleg fügt die Landesregierung eine 150-seitige Übersicht sämtlicher Finanz-, Schul-, und sonstiger Behörden an – bis hin zum Amtsgericht in Sankt Blasien (dem kleinsten im Land), zur Landesanstalt für Schweinezucht in Boxberg oder zum Polizeipräsidium in Ravensburg.

Dezentralität als Staatsräson

In der Tat gehört das Prinzip der Dezentralität bis heute zur Staatsräson einer jeden baden-württembergischen Landesregierung. Das hat vor allem historische Gründe, denn der 1952 gegründete Südweststaat setzt sich aus mehr als 200 Territorien zusammen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch selbständig waren. Um das Zusammenwachsen zu fördern, wurden amtliche Institutionen quasi mit der Gießkanne verteilt. Kaum ein Unterzentrum, das keine Behörde, keine Hochschule hätte. Hinzu kommt die starke Stellung der 35 Landkreise, die seit Erwin Teufels Verwaltungsreform wesentliche Landesaufgaben im Auftrag von Stuttgart miterledigen.