Schulzentrum auf Sri Lanka, 2015 vom Architekturbüro Robust Architecture gebaut, mit tragenden Stampflehmwänden Foto: Robust Architecture Workshop

Lehm ist der älteste Baustoff der Menschheit – und könnte in Zeiten des Klimawandels das nachhaltige Bauen ein Riesenstück voranbringen. Ein umfassendes Kompendium zur Lehmbaukultur illustriert die faszinierende Geschichte und Vielfalt des Materials.

Stuttgart - Es ist der Baustoff der Stunde: Lehm. Die Liste seiner Vorteile ist lang, und in Zeiten des Klimawandels beginnt sie mit seiner CO2 -Neutralität. Lehm ist fast überall lokal vorhanden, er nimmt Feuchtigkeit schnell auf und gibt sie wieder ab, bewahrt im Sommer die Kühle und speichert im Winter Wärme – ein exzellenter Klimaregler. Lehm absorbiert Gerüche, dämmt den Schall, und er ist zu 100 Prozent recycelbar. Nachhaltiger geht es kaum. Lehmbau ist zudem sozial und partizipativ – die späteren Nutzer können vielfach in den Bauprozess miteinbezogen werden können. Und nicht zuletzt hat der älteste Baustoff der Menschheit in allen Epochen rund um den Globus Kulturstätten von Weltruf hervorgebracht; 15 Prozent des Unesco-Weltkulturerbes bestehen aus Lehm.

Das Baumaterial ist also unschlagbar – und wird heute dennoch vielfach missachtet und verkannt. Der Architekt und Stadtplaner Jean Dethier diagnostiziert gar eine „kulturelle Amnesie“: Wie sonst lasse sich erklären, „dass die mehrere Jahrtausende überspannende Lehmbauarchitektur derart in Vergessenheit geraten“ könne, fragt er in der Einführung zu seinem Buch „Lehmbaukultur. Von den Anfängen bis heute“ (Edition Detail, München. 512 Seiten, 99 Euro).

Die Stoßrichtung des wuchtigen Bands ist damit klar: Der Belgier, der über Jahrzehnte am Pariser Centre Pompidou Ausstellungen kuratiert hat, will keine nüchterne, wissenschaftliche Dokumentation vorlegen, sondern ein leidenschaftliches Plädoyer für den Lehmbau, ja, ein auf Lehm bauendes Manifest für Ökologie und Nachhaltigkeit: „Eine wahrhaft ökologische Architektur kann und muss zum gesellschaftlichen Paradigmenwechsel beitragen. Nutzen wir den Lehmbau, damit wir auch weiterhin auf unserer Erde leben können!“, schreibt Dethier.

Manhattan der Wüste aus Lehm

Von diesem im romanischen Wissenschaftsraum nicht seltenen Pathos sollte man sich nicht abschrecken lassen. Viel zu eindrucksvoll ist das, was der Autor auf 512 Seiten ausbreitet: ein Panorama der 11 000 Jahre alten Lehmbaukultur, das deren enorme Vielfalt aufzeigt, die verschiedenen Bautechniken erklärt, kulturelle Hintergründe und Unterschiede herausarbeitet. Mit mehr als 600 Fotos und rund 100 Zeichnungen und Plänen ist das Kompendium auch visuell ein opulenter Fundus.

Der Autor und seine Co-Autoren erinnern daran, wie antike Kulturen die ersten Städte, Paläste und Tempel aus Lehm errichteten, in Mesopotamien genauso wie in Ägypten oder in Anatolien, wo mit der neolithischen Siedlung Catal Hüyük um 7560 vor Christus eine ganze Häuseranlage im Lehmziegelbau entstand. Zu den berühmten erhaltenen historischen Zeugnissen zählt die Stadt Schibam im Jemen – jene 500 bis zu sieben Stockwerke hohen Lehmhäuser, die man das „Manhattan der Wüste“ nennt.

Es ist nur eines aus der Fülle vorgestellter Beispiele, die allesamt zur Widerlegung der verbreiteten Vorurteile gegenüber dem Baustoff herangezogen werden können, dem hartnäckig das Etikett des Simplen, Ruralen und Ärmlichen anhaftet. Dass die Erneuerung und Modernisierung des Lehmbaus schon in vollem Gange ist, belegt nicht nur ein Blick auf deren wichtigste Akteure, darunter die 1979 in Frankreich gegründete internationale Gruppe für Lehmbau CRAterre, sondern auch die Vielzahl der starken zeitgenössischen Projekte: Das städtische Schwimmbad von Toro in der spanischen Provinz Zamora, Renzo Pianos Krankenhaus für Kinderchirurgie in Entebbe in Uganda, ein Universitätsinstitut im französischen Orléans oder das Bürogebäude einer österreichischen Druckerei – bei allen überzeugen Kraft und Sinnlichkeit der irdenen Architektur.

Mit dabei: die neue Alnatura-Zentrale

Ebenfalls enthalten ist der aufsehenerregende, 2019 fertiggestellte Hauptsitz des Bio-Lebensmittelunternehmens Alnatura in Darmstadt, den das Stuttgarter Architekturbüro Haas Cook Zemmrich Studio 2050 mit der größten Stampflehmfassade eines Bürobaus in Europa ausgestattet hat. Beispiele, die für sich sprechen, trotzdem ist es klug von Dethier, am Ende des Bands in einem eigenen Kapitel auf die Zukunft der Lehmbauweise einzugehen und Pioniere im deutschsprachigen Raum eindringlich dafür plädieren zu lassen, den Baustoff auch in größerem Maßstab einzusetzen.

So pocht der Vorarlberger Martin Rauch, die Lehmbau-Koryphäe aus Österreich, darauf, es nicht bei Debatten über nachhaltige Entwicklung und guten Vorsätzen zu belassen, sondern Taten folgen lassen.

Konkret bedeutet das für ihn, „das verlorene Vertrauen in Techniken wie Stampflehm, luftgetrocknete Adobe-Lehmziegel und Wellerbauweise“ wiederherzustellen. „Die reiche westliche Gesellschaft hat die Pflicht, sich für die Entwicklung nachhaltigerer Bauverfahren einzusetzen“, mahnt Rauch. Er selbst hat seinen Teil schon dazu beigetragen, indem er eine Fertigteilbauweise im Stampflehmbau entwickelte.

Der Punkt allerdings, auf den die deutsche Lehmbau-Architektin Anna Heringer hinweist, stimmt nachdenklich: Ausgerechnet in Schwellenländern gelte Lehm heute als „minderwertiges Baumaterial für Arme“, es kommt zu der grotesken wie fatalen Situation, dass dort zu industriellen Baustoffen wie Beton oder mit Zement verstärkten Lehmblöcken gegriffen werde.

Anna Heringer gehört zu denen, die in ihrer täglichen Arbeit belegen, wie ästhetisch und dauerhaft sich mit Lehm bauen lässt, was im vergangenen Jahr eine Ausstellung in der Stuttgarter Ifa-Galerie eindrucksvoll belegte.