Cannstatter Kurve, Ultras: Subkultur voller Widersprüche Foto: picture alliance / dpa

In Teilen der Cannstatter Kurve kochen die Fans vor Wut. Der Sturz in die zweite Liga scheint ihren Abwehrkampf zu bestätigen: Wider den Kommerz, wider Investoren und wider den Kurs von VfB-Chef Wolfgang Dietrich.

Stuttgart - Der empörte Vater eines neunjährigen Jungen meldete in der Redaktion unserer Zeitung den ultimativen Liebesentzug: „Nie mehr VfB Stuttgart!“ Und das nicht, weil der Verein seines Herzens mal wieder abgestiegen ist. VfB-Ultras hatten seinem Filius auf dem Weg in die Mercedes-Benz-Arena den weiß-blauen Schal von Racing Straßburg vom Hals gerissen. Auch auf höfliches Bitten des Vaters bekam er das Textil nicht zurück, im Gegenteil: Ihm wurden, begleitet von wüsten Beschimpfungen, Prügel angedroht.

Was der Vater nicht wusste: Racing-Fans sind befreundet mit den Ultras des Karlsruher SC. Vereint durch Blau und Weiß, die Vereinsfarben. Der KSC wiederum gilt als der natürliche Feind des weiß-roten Anhangs. Dumm gelaufen. „Wir stammen aus dem Elsass. Mein Sohn war bis dahin ein großer Anhänger von Racing und vom VfB, das Ticket war unser Geburtstagsgeschenk für ihn“, sagt der Vater und versteht die Welt nicht mehr: „Was denken diese Typen, wer sie sind?“ Eine berechtigte Frage.

Das Frustpotenzial ist erschreckend

Es ist eines von vielen Vorkommnissen in dieser Saison, die den Trend markieren: Die Kurvenlage im Stuttgarter Fußball ist ultra-kritisch. Und nicht nur dort erreicht das Frustpotenzial erschreckende Höhen. Die Wut im harten Kern der Fangemeinden bricht sich allerorten immer heftiger Bahn nach gängigen Mustern: Mal trifft es den Trainer, mal ist der Sportchef der Sündenbock, manchmal sind es auch einzelne Spieler oder ein Funktionär. Seit dem Abstieg nähert sich die Beliebtheitskurve von Clubchef Wolfgang Dietrich der eines Gerichtsvollziehers. Ein Teil seiner Kritiker verweigert die inhaltliche Auseinandersetzung mit ihm, schüttet stattdessen Kübel von Dreck über ihm aus und bepflastert die Stadt mit geschmacklosen Plakaten. Manche Äußerungen in den sozialen Netzwerken sind zweifelsohne justiziabel. Neu ist das alles nicht.

Einst traf der Bannstrahl aus der Cannstatter Kurve den umstrittenen Kultusminister und CDU-Mann im Präsidentenamt: Gerhard Mayer-Vorfelder. Der begegnete den Pfiffen mit der Erkenntnis „viel Feind, viel Ehr“ – und der Empfehlung: „Helm enger schnallen!“ Präsident Erwin Staudt, immerhin VfB-Meisterpräsident 2007 und Spiritus Rector der umgebauten Fußballarena, drohte die aufgebrachte Menge im Spätherbst 2009 angesichts mieser Ergebnisse mit der Erstürmung des Business-Centers: „Vorstand raus!“ Vereinzelt flogen Steine.

Offene Rechnung mit Wolfgang Dietrich

Diesmal haben die Ultra-Aktivisten eine Rechnung offen mit Wolfgang Dietrich. Was die Causa von den früheren Fällen unterscheidet: Im Digitalzeitalter dient das Internet als willkommener Empörungsverstärker ihrer inquisitorischen Strategie. Wüste Beleidigungen, geschmacklose Plakate, Dietrichs Kopf mit einem Stempel („Spalter“), der auch als Zielscheibe missverstanden werden kann. Flankiert mit einem Hashtag „Dietrich raus“ und Abwahlanträgen bei der Mitgliederversammlung an diesem Sonntag. Minimum 75 Prozent der anwesenden Mitglieder müssen für das Ende der Präsidentschaft stimmen. Und es ist wie im Fußball: Keiner weiß, wie’s ausgeht.

Bis jetzt allerdings steht Dietrich mindestens so fest wie die Cannstatter Kurve. Es nützt ihm seine Erfahrung. Schon in seiner Rolle als Sprecher des Bahnprojekts Stuttgart 21 kritisch beäugt, machte er sich die Ultras vollends zum Feind, als er der Ausgliederung zur Fußball AG nach dem Wiederaufstieg eine deutliche Mehrheit unter den VfB-Mitgliedern verschaffte (84,2 Prozent). Dass der frühere Fußball-Investor kurze Zeit später den bei vielen Fans beliebten Sportvorstand Jan Schindelmeiser feuerte und durch den Lautsprecher Michael Reschke ersetzte, vertiefte die Gräben. Der inzwischen gefeuerte Rheinländer, Architekt des Abstiegs, demontierte erst die U 23, dann kanzelte er Kritiker seiner Transferpolitik als „ahnungslose Vollidioten“ im „schwierigen Umfeld“ eines Traditionsvereins ab. T-Shirts mit gleich lautenden Aufdrucken gelten als sichtbare Bekenntnisse zur Anti-Dietrich-Fraktion.

Commando Cannstatt an der Spitze

An deren Spitze firmiert das Commando Cannstatt, die größte, älteste und einflussreichste Ultra-Organisation in Reihen der weiß-roten Fankultur. CC, 1997 gegründet, zählt nach vorsichtigen Schätzungen im harten Kern hundert Mitglieder. Ultra-Gruppierungen wie der Schwabensturm, die Schwaben-Kompanie Stuttgart 2006, kurz SKS, Crew 36 oder die Südbande sind deutlich kleiner. Bis zu 500 Ultras reisen regelmäßig zu den Auswärtspartien. Fünf bis acht sogenannte Capos dirigieren bei Heimspielen das Geschehen in der Cannstatter Kurve, straff organisiert und in Sektionen aufgeteilt feiert die Tribüne im Westen der Mercedes-Benz-Arena ihre Choreos, Fangesänge, Schlacht- und Schmährufe.

Die Rituale sind Gesetz, wirken bisweilen aber, als entstammten sie dem finsteren Mittelalter. Ultras reden nicht mit Journalisten, meiden penibel den Kontakt mit der Polizei und schotten sich ab nach Art einer Geheimloge. Ihr Groll richtet sich für gewöhnlich gegen die Zerfaserung der Spieltage, gegen überbordende Vermarktung durch Fernsehen und Sponsoren und gegen den wachsenden Einfluss von Investoren.

Feindbild DFB

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) rückte ins Zentrum der Kritik, als er im Dialog mit den Fan-Vertretungen erst Kompromissbereitschaft signalisierte, beim geregelten Einsatz von Pyrotechnik aber keinerlei Entgegenkommen zeigte. Jetzt geht die Zündelei mit den bis zu tausend Grad heißen Bengalos weiter. Mit Zeitgenossen, die sich zuvor vermummen – vor den Linsen der Überwachungskameras versteckt unter den Bannern der Gleichgesinnten. Zuletzt auch beim Relegationsrückspiel bei Union Berlin. Der VfB muss 98 000 Euro Strafe zahlen.

Auch der uralte S treit über die Stadionverbot e tobt unvermindert. Einen Fan, gegen den in irgendeinem Zusammenhang strafrechtlich ermittelt wird, erwartet in den allermeisten Fällen ein Stadionverbot. Mindestens über die Dauer des Ermittlungsverfahrens. Ganz gleich, ob schuldig oder eben nicht. DFB und Justiz beharren auf dieser vermeintlichen Präventivmaßnahme. „Scheiß DFB“, hallt es in den Stadien. Und „50+1 muss bleiben“. Die Regel, wonach Investoren in den Fußball-Kapitalgesellschaften nie die Mehrheit übernehmen dürfen, gilt als Sakrileg.

Die Ultras und ihr Alleinvertretungsanspruch

Andererseits erwartet dieser Teil der Fans hartnäckig sportliche Erfolge, die ohne Millionen-Investitionen in Steine und Beine reine Utopie bleiben. Noch dazu verlangen die Ultras und ihre Gefolgschaften gern weitgehende Mitspracherechte im Club und pochen dabei auf demokratische Prinzipien. Sie selbst organisieren sich aber in streng autoritären Strukturen, Briefwahlen oder Online-Abstimmungen im Rahmen der Mitgliederversammlung, wie von der VfB-Führung schon mehrfach vorgeschlagen, lehnen sie kategorisch ab. Die 500 Ultras und ihre bis zu 2000 emotionalen Mitschwimmer allein sind aber nicht der Verein. Der VfB zählt immerhin 69 000 Mitglieder.

Die Szene wird vielerorts von intelligenten Wortführern geprägt, die Widersprüchlichkeit ihrer Argumentation schert sie aber einen feuchten Kehricht. Ihr Selbstverständnis ist dominiert von dem Alleinvertretungsanspruch und der Arroganz, als die einzig „echten Fans“ aufzutreten. Passend dazu ihr Mantra: „Wir sind Stuttgart – und ihr nicht!“

Auch die Profis sind nicht immer begeistert von ihren treuesten Begleitern. Nach den Spielen treten sie vor der Kurve an zum Appell: Entweder sie werden gefeiert oder aber beschimpft – wie zuletzt nach dem 2:2 im Relegationsheimspiel gegen Union Berlin.

Gerne Alkohol, manchmal auch Gewalt

Alkohol ist fast immer mit im Spiel, gar nicht zu selten auch der Griff nach Drogen. Gewalt ist, anders als etwa bei den Hooligans, nicht zwangsläufiger Teil der Ultra-Philosophie, wird aber immer öfter toleriert. Der Zweck heiligt die Mittel. Zum Beispiel dann, wenn gegnerische Fans die Zaunfahne klauen oder verbotenes Territorium betreten. Todsünden.

Zwar gilt Stuttgart nicht als das Liga-Epizentrum prügelnder Horden, aber mit 154 Strafanzeigen in der Saison 2017/18 bewegen sich die Ultras in den Reihen der weiß-roten Fankultur im Mittelfeld der Liga. Zwei Fußballstaatsanwälte kümmern sich in Stuttgart um Straftaten wie Beleidigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, gefährliche Körperverletzung durch Einsatz von Pyrotechnik, Raub- und Diebstahl.

Selbstreinigende Kräfte

Das ist die negative Seite der Stuttgarter Fundamental-Opposition. Die positive ist: Sie unterstützt den Verein als solchen überall und zu jeder Zeit. Sie finanziert sich selbst, zum Beispiel über einen Ultra-Jahreskalender, sie sammelt für soziale Zwecke. Die selbstreinigenden Kräfte in den Kurven beugen in der Regel vor gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Extremismus und Homophobie. Jugendliche und junge Erwachsene schätzen das Zusammengehörigkeitsgefühl, Loyalität und Solidarität in der Gruppe. In der Kurve gemeinsam öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen wirkt faszinierend und grenzt ab gegen das Establishment.

„Die Szene ist lebendig, sie diskutiert, sie erlebt die Welt mit Händen, Hirn und Füßen, anstatt sie sich von zweifelhaften Autoritäten erklären zu lassen. Und sie hat sich die kritische Grundhaltung bewahrt, die den meisten Gleichaltrigen abgeht“, schreibt Christoph Ruf in seinem Buch „Kurvenrebellen“ (Verlag Die Werkstatt). Diese Art der Jugendsubkultur steckt voller Ungereimtheiten. Der moderne Fußball, der sie einerseits instrumentalisiert, andererseits verabscheut, muss mit ihren Extremen leben.

Der Vater des Jungen aus dem Elsass sagt, dass er auch mal jung war, auch mal über die Stränge geschlagen habe. „Aber mit solchen Aktionen schaden sie am meisten der Sache, die sie lieben.“ Er ist jedenfalls sicher: Nie wieder VfB!