Darauf hoffen viele Fachkräfte aus Italien: So wie Jessica Moranda (links) und Ilaria Mange dauerhaft in Deutschland arbeiten zu können – hier am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart Foto: Max Kovalenko

In Deutschland fehlen Fachkräfte. Immer mehr Unternehmen suchen deshalb im Ausland Personal. Besonders Pflegekräfte für Krankenhäuser und Seniorenheime sind gefragt. Ein Besuch bei einer Anwerbung in Neapel.

In Deutschland fehlen Fachkräfte. Immer mehr Unternehmen suchen deshalb im Ausland Personal. Besonders Pflegekräfte für Krankenhäuser und Seniorenheime sind gefragt. Ein Besuch bei einer Anwerbung in Neapel.

Torre del Greco - Kurz nach 8 Uhr morgens brennt die Sonne schon heiß vom Himmel. Palmen wiegen sich im Wind in Torre del Greco, einem kleinen Ort bei Neapel. Das Mittelmeer grüßt tiefblau den Berg herauf, im Hintergrund hat der Vesuv sich in ein adrettes Wolkenkleid gehüllt. In dieser Urlaubsidylle versammeln sich vor einem Hotel nach und nach immer mehr junge Menschen. Doch sie tragen keine Flipflops oder Badehosen, verbringen hier nicht ihre Ferien. Während andere vom sonnigen Süden träumen, wollen sie nur eines: weg von hier. Raus aus Italien. In eine bessere Zukunft im fernen Deutschland.

Rund 80 junge Frauen und Männer sind gekommen, um sich für eine Pflegerstelle in einem deutschen Krankenhaus oder Seniorenheim zu bewerben. Sie drängen in den Konferenzsaal und lauschen angespannt der Schilderung des Tagesablaufs. Sie alle sind Akademiker, haben in Italien den Beruf des Krankenpflegers studiert. Arbeit haben die meisten von ihnen dennoch nicht. Viele hangeln sich von einem unbezahlten Praktikum zum nächsten. Das spart Kliniken und Altenheimen viel Geld.

Wer überhaupt eine Festanstellung mit seriösem Vertrag erhält, braucht dafür in der Regel gute Beziehungen. Und viel Glück. In manchen italienischen Kliniken kommen tausende Bewerber auf eine offene Stelle. In den Pflegeberufen liegt deshalb in vielen Regionen die Arbeitslosenquote bei 70 Prozent. Besonders im Süden. Halb Sizilien ist zur Vorstellung nach Torre del Greco gereist.

Die jungen Leute, die das Hotel bevölkern, sehen für sich nur eine Zukunft: Den Weg nach Deutschland. Dort werden Pflegekräfte, aber auch Erzieher dringend gebraucht. Der Frust und die Wut über das eigene Land sitzen tief und bilden einen harten Kontrast zur Bilderbuchlandschaft vor der Tür, die für viele Deutsche der Inbegriff des leichten Lebens ist. Lucia etwa ist studierte Kinderkrankenschwester. Ihre Prüfungen hat sie mit 110 von 110 möglichen Punkten und Auszeichnung bestanden. „Jetzt jobbe ich am Wochenende als Klamottenverkäuferin“, erzählt sie desillusioniert.

Es geht hinüber in ein anderes Gebäude. Vor dem Eingang bildet sich eine Schlange. In zwei Räumen werden die Bewerber nach und nach befragt. Mit am Tisch sitzen die möglichen künftigen Arbeitgeber. An diesem Tag sind das die Vertreter von neun Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen vorwiegend aus Baden-Württemberg, von Villingen-Schwenningen über den Bodensee bis nach Großbottwar, aber auch aus Berlin. Wieso soll es Deutschland sein? Wie sind die Sprachkenntnisse? Welche Fähigkeiten sind vorhanden? Fragen und Antworten gibt es viele. Dolmetscher übersetzen alles.

Daniele hat sich an diesem Tag in Schale geworfen. Der 26-Jährige aus Rom trägt Anzug und Krawatte. Jetzt richtet sich ein Dutzend Augenpaare auf ihn. Warum er hier ist? „Weil ich arbeiten will“, sagt der junge Mann. Er ist gut vorbereitet, kennt die Unterschiede zwischen dem Beruf des Krankenpflegers in Italien und Deutschland, lobt „Germania“ für seine Seriosität und perfekte Organisation. „Es gefällt mir, dass die Arbeitgeber in Deutschland offenbar bereit sind, in ihre Mitarbeiter zu investieren“, sagt er. Nach 15 Minuten verabschiedet er sich höflich. Der Nächste, bitte!

„In Italien bekommt ein junger Mensch keine Chance, Arbeit zu finden“, sagt Gerardo Cardiello. Der Stuttgarter mit italienischen Wurzeln leitet das Anwerbeprogramm beim Internationalen Bund (IB). Dessen Angebote umfassen für gewöhnlich Kindertagesstätten, berufliche Bildungsstätten oder Sprachkurse. Doch vor einigen Jahren seien verstärkt Arbeitgeber auf den IB zugekommen mit der Frage, ob man nicht auch Fachkräfte aus dem Ausland vermitteln könne, erzählt Bernd Umbach, Geschäftsführer des IB-Verbundes Württemberg. Also sei man eingestiegen. „Wir reagieren damit auf den Arbeitsmarkt“, sagt Umbach.

Seither sucht der IB vorwiegend in Italien nach geeigneten Fachkräften sowohl für die eigenen als auch für andere Häuser. Bisher sind in gut 20 Runden etwa 400 Pflegekräfte, aber auch Erzieher und Erzieherinnen über die Alpen gekommen. Sie werden intensiv betreut und lernen zunächst für vier Monate die deutsche Sprache. Danach folgen Praxiseinsätze und weiterer Sprachunterricht, bis nach zehn Monaten die Anerkennung durch das jeweilige Regierungspräsidium ansteht. Erst dann können die Fachkräfte dauerhaft in Deutschland arbeiten.

„Wir haben nur wenige Abbrecher“, sagt Cardiello nicht ohne Stolz. Nach seinen Angaben gibt es bisher kein ähnlich intensives Programm. Die Bewerber rennen dem IB geradezu die Tür ein. Gut 4000 Leute finden sich mittlerweile in der Kartei von Michele Tuoro. Der italienische Partner des IB macht auf dem Stiefel mit seiner Agentur Germi Werbung für das Programm, sichtet die Bewerber und wählt schließlich diejenigen aus, die für die Arbeitgeber infrage kommen. Danach reisen die deutschen Vertreter nach Neapel zum persönlichen Kennenlernen.

So selbstverständlich wie jetzt hat das nicht immer funktioniert. Lächelnd erzählt Tuoro, wie oft ihn gerade in der Anfangszeit die Polizei angerufen hat. Dass eine Agentur, die Arbeitsplätze anbietet, seriös sein könnte, daran hatten manche Bewerber in Italien ihre Zweifel. Sie ließen die Sache lieber erst einmal behördlich überprüfen. Und waren dann umso überraschter, dass es tatsächlich echte Job gibt.

Im zweiten Bewerbungsraum herrscht derweil Gelächter. Wovor er sich in Deutschland fürchte, wird ein Kandidat gefragt. „Vor dem Essen“, sagt er. Und schränkt hastig mit einem Grinsen ein: „Moment, mit Ausnahme des Bieres.“ Ein anderer gibt sich stolz als guter Freund des neuen Dortmunder Fußball-Stars Ciro Immobile zu erkennen. Ein Dritter entgegnet cool auf die Frage, was er denn im bitterkalten deutschen Winter zu tun gedenke: „Snowboardfahren.“

Die Vertreter der Arbeitgeber haben ihren Spaß – aber auch viel Mühe und Verantwortung. Und das nicht nur, weil jeder angenommene Bewerber sie mehrere Tausend Euro für Vermittlung und Betreuung kostet. „Man darf die Mentalitätsunterschiede nicht vergessen“, sagt Rada Strika. Die Leiterin des Hauses im Sommerrain sucht im Auftrag des DRK-Kreisverbandes Stuttgart nach Pflegekräften. „Man muss sich intensiv um die Leute kümmern“, sagt sie.

Die ausländischen Kräfte, das wissen alle, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „Zu wenige deutsche Bewerber gehen in den Markt rein“, sagt Johannes Assfalg. Der Geschäftsführer der Maternus-Klinik Bad Oeynhausen glaubt: „Solange sich bei uns in Deutschland nichts tut, lässt sich das Problem nicht lösen.“ Auch Rada Strika weiß: „Die Gesellschaft müsste bereit sein, mehr Geld für alte und kranke Menschen auszugeben. Sonst kollabiert das System.“

Über dem Meer geht langsam die Sonne unter. Es ist inzwischen kurz nach 20 Uhr. Zwölf Stunden hat der Vorstellungsmarathon gedauert. Ein langer Tag. Nicht nur für die Bewerber, sondern auch für die Vertreter der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Immer wieder haben sie dieselben Fragen gestellt, versucht herauszufinden, wer sich für sie am besten eignet. „Die Mühe hat sich gelohnt“, sagt Martina Schürg vom Uniklinikum Tübingen. Sie hat passende Kandidaten für die Kinder-Intensivstation gefunden. Am nächsten Tag wird sie sich mit den Kollegen und dem IB besprechen, eine Favoritenliste erstellen. Schon Mitte August sollen die Bewerber die Koffer packen.

Es ist Nacht. Die letzten Kandidaten verlassen müde das Hotel. Einige müssen noch Flüge erreichen. Auch Daniele hat sich auf den Heimweg nach Rom gemacht. Dort wird er auf Nachricht warten, ob für ihn bald ein neues Leben beginnt. Wo er sich in fünf Jahren sieht, ist er an diesem Tag gefragt worden. Er hat dieselbe Antwort gewählt wie viele seiner Mitbewerber: „In Deutschland.“