So weit die Füße tragen – und dann noch 20 Kilometer mehr: Urs Oberbacher genießt seine Gewaltmärsche. Foto: alphafoto

Langstreckenrennen als Leichtathlet waren ihm zu langweilig, seit drei Jahren startet der Stuttgarter Urs Oberbach bei Extrem-Bergläufen. Wichtiger noch als Ausdauer ist die Fähigkeit zur Selbstüberwindung.

Stuttgart - Wenn Urs Oberbach losläuft, weiß er nicht, ob er überhaupt ankommt. Die Distanzen, die er beim Bergwandern bewältigt, sind unglaublich: Zwischen 100 und 200 Kilometern legt der Stuttgarter an einem Stück zurück. Dauer der Tortur: bis zu 50 Stunden. In denen läuft Oberbach nonstop durch, höchstens mit einer halben Stunde Nickerchen. Neben seinem Studium in Biel in der Schweiz betreibt der 24-Jährige eine außergewöhnliche Sportart: Trail-Running.

Höher, schneller, weiter. Dieses Motto prägte Oberbach von Kindesbeinen an. Seine Eltern lehrten ihm auf der Schwäbischen Alb die Liebe zum Bergwandern, beim PSV Stuttgart begann er im Alter von elf Jahren mit Leichtathletik-Läufen auf der Mittel- und Langstrecke. Doch alle Distanzen waren ihm zu kurz, sämtliche Herausforderung „zu langweilig“. Nicht einfach laufen, sondern möglichst viele Höhenmeter muss Oberbach überwinden: „Ich will die Grenze meines Körpers austesten.“ Ein Bergkumpel machte ihn auf Irontrail aufmerksam, Dauerläufe im Gebirge. Vor drei Jahren ist der Student eingestiegen. Ehrfürchtig leise wird Oberbachs Stimme, wenn er von seinen Grenzerfahrungen spricht. Zwei Jahre lang hat er sich auf den ersten Trail-Lauf vorbereitet, den Swiss Irontrail 2013 über 140 Kilometer in Davos.

Das Training war irgendwie planlos, nach Bauchgefühl. Mit Bergtouren im Sommer, Skitouren im Winter, Jogging und langen Radtouren am Wochenende. Strecken über 80 Kilometer sind eben schlecht im Training zu simulieren. „Ich wusste gar nicht, wie weit ich komme, was mit meinem Körper passiert.“ So stürzte sich Oberbach ins Ungewisse. Mit Wanderstock, Stirnlampe, Notration und warmer Kleidung ging es auf den Berg. Der Stuttgarter lief rund um die Uhr. Hat er ans Aufgeben gedacht? Oft. Als es Nacht wurde, eisige Kälte sich übers Gebirge legte, ein Wetterumschwung heftigen Graupel bescherte. Hat er aufgegeben? Nein. „Ich hatte gute Unterstützung.“ An jeder Verpflegungsstation, alle zehn Kilometer, standen Freunde und Verwandte. Der Extremsportler gesteht: „Erst als es nur noch fünf Kilometer bis zum Ziel waren, wusste ich, dass ich es schaffe.“ Nach 27 Stunden kam Oberbach an. Danach lag er drei Tage auf dem Sofa, konnte nicht mehr laufen.

Magische Läufe durch die Nacht

Trotzdem machte er weiter. Es gebe zahlreiche schöne Momente, „wenn man einem Vordermann durch die Nacht hinterherläuft, auf die Reflektoren an seiner Kleidung fixiert ist, das ist magisch“. Noch mehr liebt der 24-Jährige den Sonnenaufgang: „Es wird hell, die Vögel zwitschern. Da stelle ich mich hin und genieße einfach.“

Laufen ist Kopfsache. Im Vergleich zu anderen trainiert Oberbach wenig körperlich. Er legt Wert auf die Psyche: „Das geht alles vom Kopf aus. Irgendwann hat der Körper die Schnauze voll. Weiterlaufen heißt dann: weiterlaufen wollen.“ Der Student ist zäh: „Wenn ich mir was in den Kopf gesetzt habe, dann ziehe ich das durch.“ Und das mit Erfolg. 70 Prozent steigen vorzeitig aus.

„Ich habe noch nie aufgegeben“, betont er. Das Geheimnis zum Erfolg lautet, den Verstand runterzufahren. Denken kostet Kraft. Gleichzeitig muss Oberbach die Konzentration hochhalten. Am Grat kann jeder Schritt der letzte sein. Der Student läuft umsichtig: „Verletzt habe ich mich nur im Schulsport.“ Kurz lacht er, dann wird der 24-Jährige ernst: „Ich bin jede Sekunde voll konzentriert.“ Dabei hilft ihm ein fotografisches Gedächtnis: „Ich kenne jede Kreuzung.“ Verlaufen hat sich Oberbach nie.

Laufen ist eine Frage der Erfahrung. Mindestens 15 Irontrails brauche es, „bis man sich selbst kennt“. Beeindruckt ist Oberbach von der Läuferin Denise Zimmermann, Vorjahressiegerin von Davos. Zimmermann ist ein Star der Szene, 40 Jahre alt, „aber immer vor mir im Ziel. Das ist Wahnsinn.“

Wettkampfgedanke nicht im Vordergrund

Laufen ist auch Teamsport. „Auf jedem Lauf findet man jemanden, der ein ähnliches Tempo geht. An den hängt man sich dran.“ Der Wettkampfgedanke steht nicht im Vordergrund: „Da läuft jeder gegen sich selbst.“

Laufen ist Zeitaufwand. So ein Hobby ist schwer mit beruflichen Arbeitszeiten zu vereinbaren, derzeit absolviert Oberbauer ein Praktikum in Lausanne. „Mein Chef tickt ähnlich“, berichtet der Student begeistert, „manchmal fahren wir zusammen Fahrrad.“

Laufen ist teuer. Power-Riegel, Spezialausrüstung und Startgebühren sind für den Studenten nicht leicht zu stemmen. Oberbach ist auf der Suche nach Sponsoren.

Mit seiner dritten Saison ist der Extremathlet zufrieden, drei Läufe hat er 2015 absolviert, bei allen ist er unter die vorderen zehn Prozent gekommen. Auch dieses Jahr war er in Davos am Start. Über 200 Kilometer, 48 Stunden. Die Augusthitze war unerträglich, der Magen verweigerte die Nahrungsaufnahme. Trotzdem erreichte Oberbach das Ziel. Gerade deshalb ist er nicht mit sich zufrieden: „Ich bin jedes Mal ins Ziel gekommen. Es geht immer noch schneller, noch weiter. Wenn ich einen Kilometer vor dem Ziel aufgebe, dann habe ich meine Grenzen erreicht.“ In Davos, wo es so heiß war, ist er nah dran gewesen: „Zwei Stunden vor dem Ende war ich so fertig, ich musste mich kurz hinlegen.“ Zum ersten Mal in einem Rennen.