Wem gehört die Stadt? Die Stadtlücken versuchen das unter der Paulinenbrücke herauszufinden. Die Anwohner stört der massive Zulauf aus der Obdachlosen- und Drogenszene. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Seit letztem Jahr läuft das Projekt der Stadtlücken am Österreichischen Platz. Inzwischen klagen einige Anwohner über eine Ausbreitung der Obdachlosen- und Drogenszene unter der Brücke.

Stuttgart - Viola Hermann war froh über die Veränderung unter der Paulinenbrücke am Österreichischen Platz. Sie habe aber auf eine Aufwertung und eine Verschönerung gehofft – und für den Platz unter der Brücke eher auf ein Fluxus-artiges Projekt. „Künstlerbrücke“ nennt sie es. Ihr Vorschlag: „Ein Ort für Künstler und Kreative dieser Stadt – das wäre auch ein Anziehungspunkt für Besucher von außen.“

Tischtennis, Chorprojekte, bouldern und Filmabende – die Vielfalt der Veranstaltungen in den letzten Monaten war groß. Das hat viele Leute an den Ort gelockt, der davor recht unwirtlich war und in erster Linie als Parkplatz diente. „Ich sehe trotzdem keine Verschönerung bisher“, sagt Hermann nun. Seit mehr als 15 Jahren betreibt sie an der Paulinenstraße ein Schmuckatelier. Während der Veranstaltungen sei es oft auch nach 22 Uhr ziemlich laut gewesen. „Schwierig ist auch, dass es keine öffentlichen Toiletten gibt“, so Herrmann. Vor allem während des Christopher Street Days und einer Veranstaltung der Critical Mass hätten Hunderte Menschen einfach in die Nachbarschaft uriniert.

Das Stadtregal hat verschiedene Schichten zusammen gebracht – die Bilanz ist gespalten

Massiv verschlimmert hat sich die Situation für die Anwohner in den vergangenen Wochen – seit unter der Brücke das Stadtregal aufgebaut wurde. Studenten hatten dort einen Holzverschlag, der eine Mischung aus Küche und Schlafraum ist, aufgebaut – als Experiment, um verschiedene soziale Schichten zusammenzubringen. „Abends haben die sich dann um die Schlafplätze geprügelt“, sagt Hermann.

Tatsächlich versammelt sich häufig nachmittags und abends eine größere Gruppe aus der Alkohol- und Drogenszene, die Stimmung eskaliert oft schnell, häufig muss die Polizei anrücken. Grund sei, dass der Platz am Brunnen auf der anderen Seite weggefallen ist. „Durch die neue Treppe hat sich alles unter die Brücke verlagert“, so die Beobachtung von Ralph Neipp, der seit knapp zehn Jahren an der Paulinenstraße wohnt. Das Studentenprojekt habe das erst recht ausgelöst. „Mit den Stadtlücken hat das nur indirekt zu tun.“ An sich halte er es für normal, dass in einer Großstadt an öffentlichen Orten verschiedene Schichten aufeinandertreffen. Er verstehe beide Seiten. Denn auch Obdachlose und Drogenkranke bräuchten Orte, an denen sie sich treffen könnten. Er habe immer wieder in der Vesperkirche ausgeholfen, deshalb kenne er die Problematik der Szene. „Aber die Anwohner wollen natürlich auch ihre Ruhe.“

Vor allem die großen Events belasten die Nachbarschaft

Neipp nerven vor allem bei den großen Veranstaltungen Lärm und Wildpinkler. „Letzten Sommer war es oft laut bis nachts um eins, dann gab es Geschrei bei der Verabschiedung“, sagt Neipp. „Und manche Nachbarn müssen aber um fünf Uhr in der Früh raus.“ Er habe auch schon an die Stadtlücken geschrieben. „Keine Resonanz“, sagt er.

Veronika Kienzle, Bezirksvorsteherin Stuttgart-Mitte, sieht das Problem nicht bei den Stadtlücken. Die seien nicht für die Verlagerung der Szene verantwortlich. Sie räumte aber ein, dass auch sie „nicht ganz glücklich“ sei über die Ausmaße. Verboten sei das nicht, aber sie verstehe die Belastung für die Anwohner. „Aber auch für die Stadtlücken übrigens“, ergänzt Kienzle. Man könne mit den Menschen auch sprechen. „Und ich bin auch gerne bereit, das zu tun.“ Die Kritik am Projekt der Stadtlücken kann sie nicht verstehen: „Sie machen gute Arbeit, das ist ein kreativer, offener Ort geworden.“

Auch für die Stadtlücken geht es so nicht weiter – auf rein ehrenamtlicher Basis

Auch innerhalb der Stadtlücken sehen einige manche die Vergrößerung der Szene kritisch. „Das Stadtregal war sicher eine Einladung“, sagt Hanna Noller. „Auch wir fühlen uns im Moment oft dort nicht wohl“, ergänzt sie. „Aber wir wollen auch nicht zu irgendjemandem sagen: Ihr müsst gehen.“ Als Ehrenamtliche könnten sie dieses Problem nicht lösen, auch das Experiment am Österreichischen Platz können sie neben ihren Berufen auf Dauer nicht stemmen. „So wie es jetzt ist, geht es nicht weiter. Da sind wir uns alle einig“, sagt Noller.

Wie sie sich die Zukunft dort vorstellt? „Der Ort ist so komplex wie die ganze Stadt – mit Herausforderungen, die nicht nur Architekten lösen können“, sagt sie. Der Vorschlag der Stadtlücken sei die Entwicklung eines kooperativen Stadtraums. „Nicht wir machen Stadt für die anderen, sondern alle Stakeholder gemeinsam – aus der Zivilgesellschaft, der Politik, der Wirtschaft und der Stadtverwaltung.“

Gemeinderat muss über Zukunft des Österreichischen Platzes entscheiden

Das Projekt der Stadtlücken läuft im Oktober aus. Wie es danach dort weitergeht, entscheidet der Gemeinderat. Die Fraktionen Die Linke, SÖS, Piraten und die Tierschutzpartei haben gefordert, gegen Verdrängungstendenzen vorzugehen. „Der Bereich unter der Paulinenbrücke gehört allen“, heißt es in einem Antrag. Er sei seit mehreren Jahren Treffpunkt von Obdachlosen und Suchtkranken, verschiedene Einrichtungen leisteten hier Hilfe. Die Fraktionen fordern eine Umsetzung der Idee des „Kooperativen Stadtraums“, doch müsse man ein Konzept entwickeln – und überlegen, wie die sozialen Trägern in die Arbeit mit den Obdachlosen und Suchtkranken einbezogen werden könnten.