EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Straßburger Europaparlament: Ein flammender Europäer, der die EU liebt. Foto: AP

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker macht während seiner letzten „Rede zur Lage der Union“ neue Vorschläge zur Flüchtlingspolitik. Doch er wirkt dabei wenig überzeugend – eher müde und ausgebrannt.

Brüssel - Einmal im Jahr, jedes Mal in der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause hält der Chef der EU-Kommission seine „Rede zur Lage der Union“. Für Jean-Claude Juncker ist es das vierte und letzte Mal, dass er dazu an diesem Mittwoch ansetzt. Und auch das letzte Mal, hat er doch seinen Rückzug nach den Europawahlen im Mai bereits angekündigt. Eigentlich wäre dies eine Gelegenheit für den 63-Jährigen, eine Bilanz seiner Zeit im wichtigsten Amt zu ziehen, das die EU zu vergeben hat. Ist es ihm gelungen, mit seiner „Kommission der letzten Chance“ (O-Ton Juncker bei seinem Amtsantritt) die Wende zum Besseren bei der öffentlichen Akzeptanz der Bürger einzuläuten?

Diesen Anspruch zu erheben, das war damals von Juncker vermessen gewesen. Und angesichts von tiefen Gräben zwischen Ost und West in der Migrationspolitik, erodierender Rechtstaatlichkeit in Polen und Ungarn und dem rasanten Aufstieg von Populisten und Europahassern kann man heute tatsächlich nicht davon reden, dass Europa nach dem Juncker-Mandat über den Berg sein wird. Es war zudem unpolitisch von Juncker, der angekündigt hatte, eine „politische Kommission“ zu führen – sind Politiker doch gerade gefordert, Auswege zu finden, wenn sich ihre Vorhaben in der Sackgasse befinden.

Ein Überzeugungstäter, der an Glanz verloren hat

Was niemand bestreitet ist, dass Juncker als flammender Europäer für das Gemeinschaftsprojekt gekämpft hat. Jeder, der ihn erlebt spürt, dass er Europäer aus Leidenschaft ist, dass Europa, wie er in seiner Rede sagt „die große Liebe seines Lebens“ ist. Im Gegensatz zu seinem bleiernen Vorgänger Jose Manuel Barroso ist es Juncker gelungen, eine Debatte über die Zukunft der EU anzustoßen. Dies wird ihm auch über Parteigrenzen hinweg attestiert, wie etwa vom Fraktionschef der Sozialisten, Udo Bullmann (SPD) bei der späteren Aussprache: „Jean-Claude, du bist ein politischer Führer der EU – chapeau!“

Doch Juncker ist müde, auch körperlich erschöpft. Er wirkt traurig, sein Charme blitzt bei dieser knapp einstündigen Rede, die er über weite Strecken auf Französisch hält, nur für Momente auf. Vielfach ist er in letzter Zeit angesichts seines angeschlagenen Gesundheitszustandes gefragt worden, wie sehr er noch selbst die Linien seiner Politik aktiv bestimmt und wie viel auf das Konto seines Umfeldes geht.

Die Handelsmacht verteidigt

Juncker kommt dann auf die Erfolge seiner Kommission zu sprechen, die er sich durchaus auch selbst zuschreiben kann. So hat er es etwa geschafft, die EU nach der Brexit-Entscheidung im Vereinigten Königreich zusammen zu halten. Er hat mit Michel Barnier den Unterhändler bestimmt, der „meisterhaft“, wie er sich ausdrückt, die Gespräche mit London führt und dafür sorgt, dass das größte Pfund der EU, der Binnenmarkt, auch nach einem Austritt der Briten keinen Schaden nimmt. Juncker persönlich ist zudem anzurechnen, dass er bei seinem Besuch in den USA im Juli den Furor von US-Präsident Donald Trump im Handelskonflikt insofern eingedämmt hat, dass weitere Strafzölle auf Eis liegen - zumindest vorerst. Tatsächlich ist es der Juncker-Kommission zudem gelungen, zahlreiche neue Handelsabkommen etwa mit Japan, Singapur, dem gemeinsamen Markt Südamerikas (Mercosur) neu abzuschließen oder weit voran zu treiben. Davon profitiert die exportorientierte Industrie in der EU, auch deswegen ist es gelungen, zwölf Millionen neue Jobs in der EU seit 2014 zu schaffen. „Wir haben unsere Handelsmacht verteidigt“, sagt Juncker.

Überhaupt gehe es jetzt darum, blickt Juncker in die Zukunft, dass die EU sich ihrer Bedeutung im Konzert der anderen starken Spieler auf der Welt bewusst werden müsse. Europa müsse seine Kompetenz in der Kategorie „Weltpolitikfähigkeit“ beweisen, sagt Juncker und benutzt dabei das deutsche Wort. Angesichts der geopolitischen Situation schlage die Stunde, in der Europa sein Schicksal selbst in die Hand nehmen müsse. Allerdings ist Europa auch zerstritten, die politischen Abgründe zwischen Ländern wie Polen und Ungarn, wo die europäischen Werte mit Füßen getreten werden, und vielen anderen Hauptstädten sind groß. Juncker weiß, dass die EU viel zu selten in der Außenpolitik mit einer Stimme spricht.

Juncker kündigt einige Initiativen seiner Kommission an. So soll die EU-Grenzschutzagentur massiv aufgestockt werden. Bislang werden 1500 Beamte von der EU bezahlt, 2020 sollen es 10 000 sein. Sie sollen auch mehr Kompetenzen bekommen, etwa bei den Rückführungen von illegalen Zuwanderern mit anpacken.

In Straßburg bereitet man schon die Europawahlen vor

Die Kommission will zudem die EU-Bürger besser gegen Terror-Propaganda schützen. Neue Regeln sollen dafür sorgen, dass diese Inhalte binnen einer Stunde wieder aus dem Netz verschwinden. Die kommenden Europawahlen sollen gegen Manipulationsmöglichkeiten aus dem Ausland geschützt werden. „Wir müssen unsere freien und fairen Wahlen schützen“, sagt Juncker.

Es ist noch mehr als ein halbes Jahr bis zu den Europawahlen. Doch schon diesmal machte sich in Straßburg erste Vorwahlkampfstimmung breit. Die Fraktionen grenzen sich stärker voneinander ab. So deutete der Fraktionschef der Christdemokraten, Manfred Weber (CSU) schon einmal an, welche Richtung er im Wahlkampf einschlagen könnte, wenn er im November zum Spitzenkandidaten seiner Parteienfamilie gewählt werden sollte: Er ist dafür, den Bürgern einen „fairen Deal“ für die Zukunft vorzuschlagen, mit einer gerechten Besteuerung und für eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die Bürger. Und der Fraktionschef der Sozialisten, Udo Bullmann, mahnte in seiner Antwort auf Juncker einen „Politik-Wechsel“ an. Europa befinde sich in einer Zeit der großen Umbrüche, die Konservativen hätten keine Antworten auf die Zukunftsaufgaben.