Der Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeber Baden-Württemberg, Peer-Michael Dick, sorgt sich um die Flexibilität der Unternehmen. Foto: picture alliance / Kd Busch/Arbe

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) verpflichtet die Unternehmen künftig zu einer verbindlichen Arbeitszeiterfassung. Peer-Michael Dick, Hauptgeschäftsführer der Organisation Arbeitgeber Baden-Württemberg, sieht das Urteil als großen Rückschritt.

Stuttgart - Peer-Michael Dick (64) ist seit elf Jahren Südwestmetall-Hauptgeschäftsführer und agiert in dieser Funktion auch für die Organisation Arbeitgeber Baden-Württemberg. Der gebürtige Stuttgarter hat Rechtswissenschaften an der Universität Tübingen studiert. Im Jahr 2000 begann er bei Südwestmetall als Leiter der Abteilung Tarifpolitik und Tarifrecht. Seit 2008 ist er der „Kopf“ des Verbandes hinter dem Vorsitzenden und Verhandlungsführer Stefan Wolf.

Stuttgart – - Herr Dick, wird das EuGH-Urteil die deutsche Arbeitswelt revolutionieren?

Mit dem Stichwort Revolution verbindet man öfters mal positive Entwicklungen. Dies wäre in diesem Fall keineswegs berechtigt. Denn hier wird das Rad in einer Art und Weise zurückgedreht, wie wir uns das gar nicht vorstellen konnten. Nehmen Sie etwa eine junge Softwarefirma – die Angestellten arbeiten dort mal zwölf Stunden und mal sechs Stunden. So ist die junge Generation: Weder will sie überwacht noch im schlimmsten Fall durch den Gesetzgeber stranguliert werden. Was glauben Sie, was die von der Entscheidung halten? Daran sieht man die Diskrepanz von Theorie und Wirklichkeit in Europa. Hier gilt es, auch auf europäischer Ebene umzudenken und die Rechtsetzung an die neue Arbeitswelt anzupassen.

Muss sich jetzt jedes Unternehmen eine Arbeitszeiterfassung zulegen?

Der nationale Gesetzgeber muss erst einmal überprüfen, ob die aktuelle und durch Rechtsprechung ergänzte Situation gegen diese Entscheidung verstößt. Im Anschluss fragt er sich, ob er etwas ändern will. Erst danach taucht die Frage auf, ob jedes Unternehmen zwingend eine Zeiterfassung einführen muss. Es ist alles offen im Augenblick.

Aber es wäre das Ende der Vertrauensarbeitszeit?

Ja, das liest sich aktuell so. Die echte Vertrauensarbeitszeit, bei der ich als Arbeitgeber vollständig auf einen Nachweis verzichte und darauf vertraue, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitszeit erfüllt, ist wahrscheinlich vorbei. Allerdings sagt der Richterspruch auch, dass es auf die Besonderheiten der Tätigkeiten ankommt. Hier gilt es zu prüfen, welchen Spielraum das Urteil dem Gesetzgeber lässt.

Zwei Milliarden Überstunden sammeln die Arbeitnehmer pro Jahr an – ist es nun vorbei damit?

Formal nicht. Zunächst mal sind wir sehr sicher, dass die Zahl bei Weitem nicht so hoch ist, wie sie interpretiert wird. Und viele Mehrarbeitsstunden sind gedeckt vom Tarifvertrag und genehmigt vom Betriebsrat – da muss es keine Änderungen geben. Außerdem fließen viele Überstunden in Arbeitszeitkonten und werden so wieder ausgeglichen. Mit dieser Aussage wird ein Bild von belastenden Überstunden gemalt, das so mit der betrieblichen Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Außerdem gilt bereits heute nach deutschem Recht, dass die Arbeitszeit, die über acht Stunden hinaus gearbeitet wird, aufzuzeichnen ist.

Wie passt das Urteil in die deutsche Arbeitszeitdebatte um den Zehn-Stunden-Höchstarbeitstag – bremst es Ihre Bemühungen um mehr Flexibilität?

Das kommt auf die konkrete Umsetzung des EuGH-Urteils in nationales Recht an. Bei weiterer unnötiger Bürokratie und einer Einschränkung der Flexibilität wäre das auch eine Hürde für die Flexibilisierung der bisherigen täglichen Höchstarbeitszeit und der Ruhezeitenregelung von elf Stunden. Gleiches gilt, wenn die Selbstaufschriebe des Arbeitnehmers jetzt nicht mehr zählen würden. Ich kann ja nicht am Baggersee eine Zeiterfassung installieren. Parallel dazu wird das Recht auf Homeoffice diskutiert – es wird immer verrückter in dieser Welt. Insofern werden unsere Bemühungen natürlich erschwert.

Was erwarten Sie nun von der Bundesregierung?

Wir appellieren dringend an den Gesetzgeber – sofern die Begründung des Urteils eine Gesetzesänderung erfordert –, dass er bei der Umsetzung einen maximal offenen Prüfungsmaßstab anlegt, um die in den Betrieben aktuell funktionierenden Systeme nicht zu konterkarieren, und dass er auch die Selbstaufschriebe der Beschäftigten zulässt. Und wenn der Gesetzgeber schon meint, aufgrund dieses Urteils tätig werden zu müssen, dann soll er das Arbeitszeitgesetz gleich richtig reformieren – indem er etwa die tägliche Höchstarbeitszeit abschafft und durch eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit ersetzt.