Der Hilfebedarf bei der Erziehung dürfte künftig noch größer werden. Foto: dpa

Armut und Scheidungsquote sind zentrale Faktoren für das Ausmaß an Bedarf für Hilfen bei der Erziehung – einige Zahlen zur Jugendhilfe im Kreis.

Jugendhilfe - Die Zahl derer, die im Rems-Murr-Kreis erzieherische Unterstützung in Anspruch nehmen, ist in den vergangenen Jahr stark angestiegen. Teilweise beträgt die Zuwachsrate bei ambulanten Erziehungshilfen und stationären Hilfe in Vollzeitpflege oder Heimerziehung bis zum Zehnfachen dessen, was in Baden-Württemberg für die den Zeitraum zwischen 2011 und 2017 durchschnittlich verzeichnet wird. Dies sei letztlich aber eine gute Botschaft, hat in der jüngsten Sitzung des Jugendhilfeausschusses Ulrich Bürger vom Landesjugendamt dem hiesigen Kreisjugendamt attestiert: Die Zunahmen seien als „sinnvolle beziehungsweise plausible Trends einzuordnen“, betonte der Statistikexperte.

Die Steigerungen passen zu den Sozialstrukturen

Grund für die positive Bewertung der deutlichen Abweichung vom Landestrend sei unter anderem die Tatsache, dass trotz des Zuwachses die Inanspruchnahme stationärer Hilfe nach wie vor deutlich niedriger sei als angesichts der sozialstrukturellen Konstellationen zu erwarten wäre. Es handle sich um „erwartbare Nachholeffekte“ angesichts veränderter Sozialstrukturen. Der starke Zuwachs im ambulanten Bereich wiederum sei ein Erfolg der Anstrengungen, das Hilfsprogramm bei niederschwelligen Angeboten zu stärken.

Im Bereich der personellen Ausstattung konstatiert der Gutachter „erhebliche Verbesserungen“ während der vergangenen Jahre, die dazu geführt hätten, dass der Kreis in das obere Drittel unter den 44 Stadt- und Landkreise aufgerückt sei. Im Gegensatz zur Situation bei der jüngsten Berichterstattung zu den erzieherischen Hilfen im Land befinde sich der Rems-Murr-Kreis jetzt „in einer Position, die in einem schlüssigen Verhältnis zu den sozialstrukturellen Rahmenbedingungen im Kreis steht“. Entscheidende Faktoren bezüglich des Bedarfs an Hilfsmaßnahmen sind laut den aktuellen Sozialforschungen Armutsbetroffenheit und die familiäre Situation in Haushalten mit Minderjährigen.

Hoher Hilfebedarf in Familien mit Stiefelternkonstellation

Landesweit, so erläuterte Bürger, sei die Wahrscheinlichkeit, dass für Minderjährige aus einem Hartz-IV-Haushalt Erziehungshilfen in Anspruch genommen würden, um den Faktor 22 höher, als für solche aus einem Haushalt, der ohne Sozialhilfe auskommt. Noch extremer sei die Bedeutung der familiären Situation. Während in Haushalten mit beiden Eltern nur für einen von 637 Minderjährigen (0,2 Prozent) Erziehungshilfe in Anspruch genommen wird, gilt dies bei Alleinerziehenden für einen von 35 (drei Prozent) und in einer Stiefelternkonstellation für einen von zwölf (8,3 Prozent). Warum gerade letzteres so sei, lautete eine der Fragen im Gremium. Das liege keineswegs an schlechterem Elternsein oder fehlender Liebe, so der Jugendhilfeforscher, sondern an den weit komplizierteren Beziehungsstrukturen und dem damit verbundenen massiv erhöhten Konfliktpotenzial.

Sowohl bei der Zahl der von Scheidung betroffenen Kinder als auch beim Sozialhilfebezug von Haushalten mit Minderjährigen weist der ansonsten eher einkommensstarke Rems-Murr-Kreis relativ hohe Zahlen auf. Laut Bürger ist das ein deutliches Indiz für einen überdurchschnittlichen Bedarf an Hilfsangeboten. Trotz der Steigerungen in den vergangenen Jahren seien die aktuellen Fallzahlen deutlich niedriger, als angesichts dieser Voraussetzungen eigentlich zu erwarten wäre.

Für die kommenden Jahre stehe der Kreis – wie alle anderen in Baden-Württemberg – bei der Kinder- und Jugendhilfe vor großen Herausforderungen. Der „Wandel in den Bedingungen des Aufwachsens“ gehe weiter. Gekennzeichnet sei dieser durch „zunehmende Brüchigkeit in der Verlässlichkeit familiärer Strukturen und das Auseinanderdriften sozialer Lebensverhältnisse“. So sei es keineswegs sicher, dass die vergleichsweise „niedrige Inanspruchnahme und die damit verbundenen geringeren Ausgaben für die Jugendhilfe Bestand haben werden.“