Zur Hochschulreife gibt es viele Wege – einer führt übers Abendgymnasium Foto: dpa

Mittlere Reife oder Abitur können auch Berufstätige machen. Der Stuttgarter Fahrlehrer Ümit Yalcin erzählt, warum den zweiten Bildungsweg gewählt hat.

Stuttgart - Ümit Yalcin liebt das Lernen. Schon als Kind habe er von einem höheren Schulabschluss geträumt, erzählt der gebürtige Stuttgarter, dessen Eltern vor über 30 Jahren aus der Türkei zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Auf direktem Weg war ihm das nicht möglich. „Unsere Eltern haben uns Kinder so gut unterstützt, wie sie konnten“, erzählt er. In schulischen Fragen konnten sie ihm aber wenig helfen. Deshalb schickten die Grundschullehrer den aufgeweckten Jungen erst einmal zur Hauptschule, in der siebten wechselte er dann zur Realschule. Er machte mittlere Reife, absolvierte eine Ausbildung zum Bürokaufmann, arbeitete eine Weile in diesem Beruf und ließ sich dann zum Fahrlehrer ausbilden.

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Inzwischen hat der 30-Jährige die ersten drei Semester seines Studiums zum Wirtschaftsingenieur hinter sich. Die Gespräche mit seinen Fahrschülern – viele von ihnen Abiturienten – hatten ihn motiviert, nochmals die Schule zu besuchen, um seinen Horizont zu erweitern. „Was sie hinkriegen, das schaffe ich auch“, sagte er sich und meldete sich im Abendgymnasium Stuttgart an. Drei Jahre später hatte er seine Hochschulzugangsberechtigung in der Tasche.

2500 Erwachsene an Abendschulen

Wie Ümit Yalcin geht es vielen Menschen. Rund 400 Schüler besuchen derzeit das Abendgymnasium in Stuttgart, um das Abitur oder die Fachhochschulreife zu machen. Landesweit sind es nach Angaben des Statistischen Landesamts rund 2500. Für Schüler mit der mittleren Reife dauert das in der Regel drei Jahre, Hauptschulabsolventen besuchen zunächst einen einjährigen Vorkurs. Die Schüler haben die Wahl zwischen Abendkursen an vier Tagen oder Unterricht am Freitagabend und am Samstag. Dazu kommen noch Hausaufgaben.

Yalcin entschied sich für den Wochenendkurs, weil sich das besser mit seiner Arbeitszeit vereinbaren ließ. Er lernte frühmorgens vor den Fahrstunden und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Anfangs habe er sich erst wieder ans schulische Lernen gewöhnen müssen, berichtet er. „Es gab immer wieder Höhen und Tiefen.“ Die Erfolgserlebnisse waren in der Überzahl. Das half ihm durchzuhalten.

Das Auf und Ab kennen viele, sagt Silvia Greif, Stellvertretende Schulleiterin des Abendgymnasiums Stuttgart. Einer ihrer Schüler, der früher unter der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung litt, sei immer wieder kurz davor gewesen aufzugeben. Am Ende schaffte er das Abitur mit 1,0.

Der Älteste machte mit 75 Jahren Abitur

Vor allem in den ersten Monaten brechen viele ab, weil sie Beruf und Schule nicht unter einen Hut bringen oder sich den Anforderungen nicht gewachsen fühlen. Die Schüler müssen mindestens 75 Prozent der Unterrichtsstunden besuchen. Für manchen ist auch die zweite Fremdsprache eine Hürde. Wer mit einer anderen Muttersprache als Deutsch aufgewachsen ist, kann diese mittlerweile als zweite Fremdsprache anerkennen lassen, muss aber ebenfalls eine Prüfung ablegen.

Die Gründe für die Rückkehr auf die Schulbank sind ebenso vielfältig wie die Schüler. Die jüngsten sind 19 Jahre alt, der bisher älteste in Stuttgart machte mit 75 Jahren Abitur. Manchen reicht der Abschluss, andere nehmen ein Studium auf – unter den Absolventen sind beispielsweise Ingenieure, Literaturwissenschaftler, Psychologen. Etwa die Hälfte sind Einwanderer oder kommen aus Einwandererfamilien, landesweit machen Schüler mit Migrationshintergrund 40 Prozent aus. „Wir bekommen oft positive Rückmeldungen“, sagt Greif. Viele bedankten sich, dass sie immer wieder ermutigt und unterstützt wurden.

Auch Ümit Yalcin schwärmt von seiner ehemaligen Schule. Er habe nicht nur viel Neues gelernt – zu seinen Lieblingsfächern gehörten Mathe, Deutsch und Biologie –, sondern habe auch Selbstvertrauen gewonnen, sagt er. Er kenne seine Stärken und Schwächen besser und habe auch begriffen, dass er nicht in allem sehr gut sein könne – und müsse.

In den nächsten Monaten macht er an der Hochschule Pause. Vor neun Monaten ist er erstmals Vater geworden. Deshalb will er sich zunächst auf seine Tochter und seinen Beruf als Fahrlehrer konzentrieren. „Ich möchte mir genügend Zeit für meine Tochter nehmen“, sagt er. „Sie soll einen leichteren Start haben.“

Forum Bildung der Stuttgarter Nachrichten

Info:

Abendrealschulen, Abendgymnasien, Berufsaufbauschulen, Technische Oberschulen, Wirtschaftsoberschulen, Oberschulen für Sozialwesen und Berufskollegs bieten Erwachsenen die Möglichkeit, einen höheren Schulabschluss zu machen. Der Unterricht findet teilweise abends und an Wochenenden statt.

Informationen und Standorte finden sich auf den Internetseiten des Kultusministeriums unter www.kultusportal-bw.de.

Auskünfte gibt es auch bei den Trägern. Volkshochschulverband: www.vhs-bw.de, www.kolping-bildungswerk.de, www.abendrealschulen-bw.de, Verband der Privatschulen: www.vdp-bw.de

Beim nächsten Forum Bildung der Stuttgarter Nachrichten am Mittwoch, 15. April, steht das Thema lebenslanges Lernen im Mittelpunkt.

Staatssekretärin Marion von Wartenberg, Prof. Dr. Josef Schrader, Direktor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung, Dagmar Mikasch-Köthner, Direktorin der Volkshochschule Stuttgart, und Ümit Yalcin, Absolvent des Abendgymnasiums Stuttgart, diskutieren über die Frage: „Trägt Wissen Früchte? – Warum Erwachsene lernen“.

Die Podiumsveranstaltung findet in der Volkshochschule Stuttgart, Fritz-Elsas-Straße 28, statt. Beginn ist um 19 Uhr.

Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung erwünscht (www.stn.de/forumbildung)