Eintauchen in die Welt der Zeichen und Bedeutungen: der Pavillon des Gastlandes Georgien Foto: Getty

Zum 70. Mal öffnet in Frankfurt am Main die weltgrößte Bücherschau ihre Türen. Der Ehrengast Georgien setzt eindrucksvoll sein Alphabet in Szene, und die deutsche Literatur frönt der Geschichte.

Stuttgart - Die Geschichte kehrt zurück. Unweit des Frankfurter Römers ist plötzlich ein ganzes Altstadtviertel wieder auferstanden; alte Bürgerhäuser haben wieder ihren Platz eingenommen, als wäre nichts geschehen. Doch geschehen ist eine ganze Menge. Um es wieder aufleben zu lassen, bedarf es einer gehörigen Portion historischer Vorstellungskraft. Und damit wäre man bereits über die gedankliche Brücke spaziert, die sich in diesem Jahr zwischen dem neuen alten Herz der Stadt und dem nahen Kaisersaal förmlich aufdrängt. Denn unter der strengen Observanz von 52 gekrönten Häuptern des Heiligen Römischen Reiches, ins Leben gerufen von der rückwärtsgewandten Sehnsucht des maschinenbebenden 19. Jahrhunderts, stellen sich hier Romane zur Wahl für den Deutschen Buchpreis, die dieses Mal vor allem eines eint: der Blick zurück.

Maria Cecilia Barbetta erhellt in „Nachtleuchten“ den Vorabend vor der argentinischen Militärdiktatur, was angesichts der aktuellen politischen Entwicklung in Brasilien unversehens näher an die Gegenwart rückt, als einem lieb sein kann. Nino Haratischwilis „Die Katze und der General“ stellt mit georgischem Double ein Schreckenskapitel des Tschetschenienkriegs nach. Maxim Biller bereist mit „Sechs Koffern“ die inneren und äußeren Flucht- und Irrwege seiner Familie, Stephan Thome mit dem „Gott der Barbaren“ sein sinologisches Spezialgebiet.

Und Inger-Maria Mahlke lässt in „Archipel“ ihre Figuren in der Gegenwart zurück, um sich immer tiefer in die Geschichte Teneriffas zu vergraben. Was von der historisch äußerst aufgeschlossenen Jury denn auch prompt mit der begehrten Auszeichnung honoriert wurde. Einzig Susanne Röckel hat es gewagt, sich mit ihrem „Vogelgott“ in fantastische Sphären aufzuschwingen und den Realitätszwang unter sich zu lassen. Die wackere offizielle Version lautet, man könne die Gegenwart nicht verstehen ohne die Vergangenheit. Aber könnte unterhalb dieser aufklärerischen Schwelle die Fixierung auf das historische Fach nicht auch heißen, dass man sich wegwünscht, in andere Zeiten und in andere Länder?

Die rechten Verlage landen in einer rechten Ecke

Als zentralem Veranstaltungsort verfügt die Messe mit dem Frankfurter Pavillon über einen neuen Mittelpunkt, ein filigran verschaltes temporäres Gebäude, das am Mittwoch von Bundespräsident Steinmeier offiziell eröffnet wird. In seiner spiraligen Anlage erinnert es ein wenig an ein Schneckenhaus. Und wenn Heinrich Riethmüller, der Vorsteher des Deutschen Börsenvereins, die Aufbruchstimmung in der Branche preist, vor dem Hintergrund eher Gegenteiliges signalisierender Zahlen, ist man versucht, die Gebäudestruktur metaphorisch zu lesen, als ziehe sich die Branche hierher in sich selbst zurück.

Riethmüller träumt von neuen Wegen, die Leute zu erreichen, die sich von den Büchern abwenden, aber eigentlich gerne viel mehr lesen würden. Welche Wege das sein könnten, bleibt hinreichend offen. Dafür ist bei ihm und dem Buchenmessendirektor Juergen Boos viel von Vielfalt, Dialog und Menschenrechten die Rede, deren Erklärung zusammen mit der Buchmesse in diesem Jahr ihren siebzigsten Geburtstag feiert. Die Messe sei ein Ort der Freiheit und des gegenseitigen Respekts, und diese Bühne dürfe nicht missbraucht werden, sagt Boos. Doch scheint sich genau dies wieder anzudeuten. Nachdem es im vergangenen Jahr zu teils heftigen Scharmützeln zwischen rechten Verlagen und linken Gruppierungen gekommen war, hat die Messeleitung die entsprechenden Verlage aus Sicherheitsgründen in einer veritablen rechten Ecke angesiedelt. Und ihnen damit eine Steilvorlage geliefert. Schon schwadroniert die davon betroffene Wochenzeitung „Junge Freiheit“ von der Freiheit in der Sackgasse. Das lässt für den angekündigten Auftritt des AfD-Rechtsaußen Björn Höcke am Freitag nichts Gutes befürchten.

Zwischen Sonntagsreden und existenzieller Erfahrung

Die Welt werde dunkler, sagt die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie bei ihrem eindrucksvollen Kurzauftritt während der Eröffnungspressekonferenz, bei dem man erleben konnte, wie ein Dichterinnenwort die Sphären von Sonntagsreden und existenzieller Erfahrung von einem Moment auf den anderen klar voneinander scheidet. Die Länder ihres Herkunftskontinents wurden vom Präsidenten ihrer Wahlheimat vor Kurzem als „Shithole Countries“ verunglimpft. Man könne die Welt nicht verstehen, wenn ein kleiner Teil das Ganze repräsentiere, was sie sowohl auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern wie auf das zwischen armen und reichen Ländern bezog. Ökonomischer Erfolg gehe nicht mit moralischer Überlegenheit einher. „Wir brauchen mehr politische Geschichten, die der Welt ins Gesicht blicken.“

Der Auftritt des Gastlands Georgien setzt ganz auf die Kraft der Buchstaben. Wer den Pavillon betritt, taucht ein in eine geschwungene Welt aus kalligrafischen Linien. Nicht die Zeit, sondern die Schrift wird hier zum Raum. Seit 2016 steht das georgische Alphabet auf der Unesco-Liste des immateriellen Weltkulturerbes. Seine 33 Buchstaben prägen das gesamte Ambiente. „Georgia made by Characters“ ist der Raum überschrieben, ein Spiel mit dem englischen Doppelsinn von Charakter und Buchstaben.

So versinkt man in Installationen, die den Reiz einer Sprache, die man nicht versteht, sinnlich erfahrbar machen. Im suggestiven Dämmer fließen die Grenzen zwischen Zeichen und Bedeutungen ineinander. Und das ist ganz im Sinn Nino Haratischwilis. Unserer Welt sei besessen von Grenzen, rief die Autorin, die mal als Georgierin, dann als Deutsch-Georgierin oder Deutsche durch den Literaturbetrieb nomadisiert, bei der Eröffnungsfeier ins Publikum. Sie genieße es, sich in den nächsten Tagen einmal nicht zwischen den Welten zu finden, sondern beide vereint zu sehen.

Und dann erzählt sie die Geschichte von der kriechenden Grenze. Wo Russland und Georgien aufeinanderstoßen, bewege sich der Stacheldraht klammheimlich Nacht vor Nacht voran. Wie sie nun die Szene eines alten Bauern ausmalt, der sich eines Morgens plötzlich in besetztem Gebiet wiederfindet, und nun mit Humor und Leidenschaft einem russischen Soldaten erklärt, warum er Haus und Hof und das Grab seiner Vorfahren auf keinen Fall zurücklassen kann – da ahnt man, dass das der Kern einer neuen Geschichte sein könnte, einer Geschichte, die ihrer Autorin vielleicht dann doch einmal den Deutschen Buchpreis bescheren wird.