Bisher gibt es in Baden-Württembergs Kitas nur eine Notbetreuung – hier eine Ecke mit Kuscheltieren.Spätestens bis Ende Juni sollen in Baden-Württemberg die Kindertagesstätten wieder öffnen. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Das Zwischenergebnis einer Studie im Land ist eindeutig: Das Infektionsrisiko ist in Kitas nicht größer als zu Hause. Auch Grundschulen sollen bald wieder öffnen.

Stuttgart - Eigentlich wollte Winfried Kretschmann ja keine Teilergebnisse vorab herausgeben. Erst wenn die Wissenschaftler einen Punkt hinter ihre Studie gemacht haben, die das Infektionsrisiko von Kindern durch Corona klären soll, wollte der Ministerpräsident die Öffentlichkeit informieren. Jetzt lässt er doch ein Zwischenergebnis durchsickern, aber eines, das als Plakatschlagzeile taugt: „Kitas sind keine Virenschleudern“, skandiert er – zumindest nicht bei Corona.

Wie zur Entschuldigung hebt er seine Achseln und rechtfertigt die vorschnelle Reaktion mit dem „gewaltigen Druck“, der auf der Regierung lastet. Nur die Hälfte der Kinder im Land dürfe in die Notbetreuung, und bundesweit belaste die Kitaschließung 14 Millionen Familien, sagt Kretschmann: „Die sind mit den Nerven am Ende.“ Dass er nun vorab eine frohe Botschaft verkünden kann, mag er selbst noch nicht so recht glauben, denn diese widerspricht so manchem, was man bisher als gesichert annahm. Er habe den Wissenschaftlern dreimal gesagt: „Das muss valide sein!“ Und die hätten Ja gesagt.

Fast keine unerkannten Infektionen

Der Aufwand für die Studie war enorm. 5000 Menschen haben die Forscher der Unikliniken Heidelberg, Ulm, Freiburg und Tübingen auf das Coronavirus und auf Antikörper getestet. Die Hälfte der Probanden waren Kinder bis zehn Jahre, die andere Hälfte je ein Elternteil. Noch seien nicht alle Proben ausgewertet, so Kretschmann, doch der Trend sei klar: „Bei Eltern und Kindern wurden fast keine unerkannten Infektionen gefunden.“ Allenfalls im Promillebereich. Und: Nur bis zu zwei Prozent hätten Antikörper im Blut. Eindeutig sei, dass Kinder „signifikant“ seltener krank werden als Erwachsene, aber auch seltener infiziert.

Für den weiteren Umgang mit Kitas und Grundschulen ist diese Erkenntnis fundamental: „Wir können ausschließen, dass Kinder besondere Treiber des Infektionsgeschehens sind.“ Das Ausbreitungsrisiko sei in Kitas nicht größer als bei der heimischen Betreuung. Auf dieser Basis soll nun Susanne Eisenmann ein Konzept für den Regelbetrieb dieser Einrichtungen erarbeiten. Am Montagabend, nachdem er das Zwischenergebnis erfuhr, hatte er die Kultusministerin informiert, damit sie vorbereitet bei Frank Plasbergs „hart aber fair“ vor das Fernsehpublikum trat. Die CDU-Frau kündigte am nächsten Morgen an, zügig mit Kommunen und Trägerverbänden einen Rechtsrahmen zu erarbeiten, „um spätestens bis Ende Juni die Kitas wieder vollständig öffnen zu können“. Zudem soll ein Konzept für die weitere Öffnung der Grundschulen erarbeitet werden. Eisenmann: „Mit diesen Schritten bieten wir Familien mit kleineren Kindern eine echte Perspektive.“

Das Endergebnis steht noch aus

Etwas Wasser goss sie in den Wein: Weil viele der Lehrer und Erzieher zu den Risikogruppen zählen, müsse die Öffnung gründlich vorbereitet werden. Außerdem soll häufiger als bisher getestet werden, wenn auch nicht flächendeckend. Bis spätestens in 14 Tagen rechnet Kretschmann mit dem Endergebnis der Studie.

Die Federführung für die Studie, die derzeit an den vier Unikliniken im Südwesten durchgeführt wird, liegt am Universitätsklinikum Heidelberg. Ziel war es, zu testen, wie viele Kinder und Eltern infiziert sind oder bereits waren und ob Kinder seltener infiziert sind als ihre Eltern. Voraussetzung für eine Teilnahme an der Studie war, dass die Probanden noch nicht – jedenfalls nicht wissentlich – infiziert waren. So sollen Rückschlüsse auf die Gesamtbevölkerung möglich werden. Den Teilnehmern wurden ein Nasen- oder Rachenabstrich und eine Blutprobe entnommen.

Noch liegen die endgültigen Ergebnisse allerdings nicht vor. Vom Uniklinikum Tübingen heißt es, dies werde noch einige Tage dauern. Auch eine Sprecherin des Universitätsklinikums in Heidelberg sagt, man sei in der letzten Phase der Validierung der Daten. Die Sprecherin bestätigt aber: Der Ministerpräsident habe im Einvernehmen und abgesprochen mit der Wissenschaft erste belastbare Zwischenergebnisse mitgeteilt. Die Aussagen des Ministerpräsidenten, so die Sprecherin weiter, „fußen auf den Erkenntnissen und Empfehlungen der Wissenschaftler, die an der Studie beteiligt waren“ – auch jene Aussage, dass Kinder keine treibenden Überträger des Virus seien.

Weniger Husten – weniger Tröpfchen

Tatsächlich sehe es nicht so aus, „als ob Kinder eine entscheidende Rolle beim Infektionsgeschehen spielen würden“, sagt Philipp Henneke, Sektionsleiter der Pädiatrischen Infektiologie und Rheumatologie am Universitätsklinikum Freiburg, der an der Studie beteiligt war. Man habe bei den Untersuchungen keinen Hinweis darauf gefunden, dass Kinder ein besonderes Risiko für die Weiterverbreitung des Virus seien. Der Hintergrund ist dabei seiner Aussage nach, dass nur sehr wenige Kinder überhaupt mit dem Coronavirus infiziert sind oder waren. „Ein bis zwei Prozent sind sehr, sehr wenig. Das zeigt, dass Kinder keine Sonderbehandlung brauchen, was das Infektionsgeschehen angeht“, so der Infektiologe gegenüber unserer Zeitung. Allerdings bedeutet das nicht, dass Kinder sich nicht grundsätzlich mit dem Virus infizieren oder es weitergeben könnten: „Man kann davon ausgehen, dass sie das Virus bei engem Kontakt auch weitergeben können.“ Allerdings würden Kinder, die infiziert seien, oft kaum oder nur sehr milde Symptome entwickeln. „Die Wahrscheinlichkeit, ein Virus weiterzugeben, steigt mit den Symptomen. Wenn sie etwa weniger Husten oder Niesen, geben sie weniger infektiöse Tröpfchen ab.“

Darüber, dass Kinder, die mit dem Coronavirus infiziert sind, seltener Symptome entwickeln, besteht unter Wissenschaftlern auch bislang schon weitgehend Einigkeit. Das habe vermutlich mit der Immunität von Kindern zu tun, sagt Henneke – das müsse aber noch weiter erforscht werden. Doch ob Kinder auch ohne Symptome das Virus weitergeben können, darüber bestand bislang Unklarheit.

Widersprüchliche Studienergebnisse

Studienergebnisse waren teils widersprüchlich. So kam eine größere, Ende April in der Fachzeitschrift „Lancet“ publizierte Studie zum Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder sich infizieren, ähnlich groß sei wie bei Erwachsenen. Die Infektionsrate sei Daten aus Shenzhen in China zufolge bei Kindern unter zehn Jahren ähnlich hoch wie in der Gesamtpopulation. Die Forscher schlussfolgern, dass Kinder im Hinblick auf Maßnahmen zur Reduzierung der Übertragungen eine wichtige Rolle spielen könnten. Auch der Berliner Virologe Christian Drosten hatte in einer kleineren Studie aufgezeigt, dass Kinder in Bezug auf die Virenlast keinen großen Unterschied zu Erwachsenen zeigen und somit auch genauso ansteckend sein könnten.

Mit der Studie an den Unikliniken in Baden-Württemberg wollten die Wissenschaftler im Land hier für mehr Klarheit sorgen.