Ali Riza Tolu (Mitte), der Vater der deutschen Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu, spricht vor dem Gerichtsgebäude im türkischen Silivri mit Journalisten. Foto: AP

Die deutsche Journalistin Mesale Tolu wird nach mehr als sieben Monaten aus der türkischen Untersuchungshaft entlassen. Bei ihrer Familie, in der Heimatstadt Ulm und landesweit ist die Freude groß.

Istanbul/Ulm - Mesale Tolu ist in Handschellen in den kleinen Gerichtssaal in Istanbul geführt worden. Auf der Anklagebank sitzen sie und die fünf anderen inhaftierten Beschuldigten, jeder von ihnen flankiert von zwei Polizisten. Als der junge Richter am Montag seine Entscheidung verkündet, hält Tolu über den Schoß eines der Polizisten hinweg die Hand eines Mitangeklagten.

Dann löst sich die Anspannung mit einem Schlag in Freude auf: Die Deutsche und die fünf türkischen Inhaftierten kommen frei – unter Auflagen: Das Land verlassen dürfen sie nicht, jeden Montag müssen sie sich bei der Polizei melden. Tolu wird zum Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy gebracht, um ihre Sachen zu holen und die Entlassungsformalitäten zu erledigen.

Dort gibt es dann Verwirrung um ihre Entlassung. Der deutsche Botschafter Martin Erdmann sagte, es sei unklar, wohin Tolu genau gebracht worden sei. „Wir suchen sie jetzt.“Erdmann, der lange vor dem Frauengefängnis gewartet hat, zeigt sich über das Vorgehen der türkischen Behörden empört. „Die spielen mit uns ein Versteckspiel.“

Versteckspiel der türkischen Behörden?

Der Gefängnisdirektor hatte Erdmann zugesagt, dass Tolu vor dem Gefängnis ihre Familie begrüßen könne und dann zur Erledigung letzter Formalitäten auf eine Polizeiwache gebracht werde. Später fährt ein graues Zivilfahrzeug mit getönten Scheiben aus dem Gefängnis heraus. Auf Nachfrage Erdmanns beim Gefängnis stellt sich heraus, dass Tolu in diesem Wagen saß.

Ein Freispruch ist die Entscheidung für Tolu jedoch nicht: Die sechs Beschuldigten – die letzten in dem Prozess, die noch in U-Haft saßen – werden nur bis zu einem Urteil auf freien Fuß gesetzt. Der Prozess geht am 26. April weiter, doch mit einem Urteil ist erst im kommenden Sommer zu rechnen, sagt Tolus Anwalt Keles Öztürk unserer Zeitung in Istanbul: „Es müssen noch Zeugen gehört und Beweismittel ausgewertet werden – das dauert.“ Der 33-jährigen Deutschen aus Ulm, die in Istanbul für die kleine linke Nachrichtenagentur Etha arbeitet, und ihren 17 Mitangeklagten wird Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen, gemeint ist die linke MLKP.

Nach der Entscheidung des Gerichts am Montag reckt ihr Vater Ali Riza Tolu, der sich seit Monaten in der Türkei für seine Tochter einsetzt, vor dem Saal die Faust zur Siegerpose in die Luft. „Ich bin der glücklichste Mensch der Welt.“ Er freue sich darauf, Mesale einen „dicken Kuss“ zu geben und mit der Familie zusammen zu feiern. Nach ihrer Haftentlasung wird die Noch-Angeklagte in Istanbul auch ihren dreijährigen Sohn Serkan in die Arme schließen können, den sie zeitweise hinter Gittern bei sich hatte. Tolus ebenfalls angeklagter Ehemann Suat Corlu war bereits im November freigekommen.

Resolution des Ulmer Gemeinderats

Tolus Freilassung löste auch in ihrer Heimatstadt Ulm und innerhalb der Familie große Freude aus. „Ich bin dankbar, dass meine jüngere Schwester freigekommen ist“, sagte Hüseyin Tolu Minuten nach dem Gerichtsentscheid unserer Zeitung. „Die Hoffnung auf einen Freispruch ist gestiegen.“ Ihr drohen bis zu 20 Jahre Haft.

Die Anklage basiert im Wesentlichen auf der Teilnahme Tolus an Kundgebungen. Aus Sicht ihrer Anwälte hätte sie für die dünnen Vorwürfe erst gar nicht in U-Haft genommen werden dürfen. Ihr Vater führt die Freilassung – die das Gericht zum Prozessauftakt am 11. Oktober noch verweigert hatte – auf die Verbesserung der deutsch-türkischen Beziehungen zurück.

Der Ulmer Oberbürgermeister Gunter Czisch (CDU) sagte, die Freilassung sei ein „Zeichen der Hoffnung“. Er schränkte aber ein: „Wir hätten uns gewünscht, dass das Gericht die junge Frau ohne weitere Auflagen aus der Haft entlassen hätte.“ Am Mittwoch vergangener Woche hatte der Ulmer Gemeinderat eine Resolution verabschiedet, in der die sofortige Freilassung der 33-jährigen gefordert wurde. Angelika Lanninger, Tolus frühere Lehrerin am Anna-Essinger-Gymnasium Ulm, fand kurz nach dem Gerichtsentscheid nur schwer Worte. „Ich bin noch am Weinen vor lauter Freude“, sagte sie. Die Pädagogin hatte eine Online-Petition gestartet, durch die der Außenminister Gabriel (SPD) aufgefordert werden sollte, sich für Tolus Freilassung einzusetzen. Bis zum Wochenende hatten mehr als 100 000 Menschen die Petition unterzeichnet.

Tolus Schicksal ist Thema im Unterricht in Ulm

Der amtierende Rektor des Anna-Essinger-Gymnasium, Marius Weinkauf, betonte seine „große Freude“ und äußerte zugleich sein Befremden über den Prozess: „Genauso willkürlich, wie sie verhaftet wurde, ist sie jetzt freigelassen worden.“ Ihr Schicksal sei immer wieder auch Thema im Unterricht gewesen. Seine Gymnasiasten hätten am Montag womöglich gelernt, so der Schulrektor, „dass politisches Engagement was bringt“. Zwar betont die türkische Regierung bei jeder Gelegenheit, die Justiz sei unabhängig. Am Montag zweifelten Beobachter im Gerichtssaal aber daran, ob wirklich das Gericht in Istanbul über die Freilassung der Deutschen zu befinden hatte – oder ob diese Entscheidung nicht vielleicht in Ankara gefällt wurde. „Das Ganze wirkt wie eine Farce“, sagte der deutsche Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, der nach Istanbul gekommen war, kurz vor Verkündung der Entscheidung.

Tatsächlich bemüht sich die türkische Regierung seit dem Höhepunkt der Krise im Sommer um Entspannung. Botschafter Erdmann – der am Montag ebenfalls als Beobachter beim Prozess in Istanbul war – bekommt wieder leichter Termine, nachdem die Türen in Ankara für ihn zeitweise verschlossen waren. Ende Oktober wurde der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner aus der U-Haft entlassen.

Vize-Premier Mehmet Simsek, der vor allem für Wirtschaft zuständig ist, sagte Anfang des Monats nach einem Bericht der regierungsnahen Zeitung „Daily Sabah“, das Schlimmste sei vorüber. „Die deutsch-türkischen Beziehungen verbessern sich. Die Beziehungen verbessern sich, nachdem sie die Talsohle erreicht hatten.“

Keine neuen Vorwürfe von Erdogan Richtung Deutschland

Ähnliche Töne kommen aus der Regierungspartei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. „Unsere Beziehungen zu Deutschland haben angefangen, sich zu normalisieren“, sagte AKP-Sprecher Mahir Ünal kürzlich bei einem Treffen mit Auslandskorrespondenten, das an sich schon ein Ereignis mit Seltenheitswert war. „Wir wollen keine Probleme mit Deutschland.“ Erdogan selber hat seit Wochen keine neuen Vorwürfe an die Adresse Deutschlands mehr gerichtet.

Berechenbarkeit ist keine Stärke der türkischen Außenpolitik, daher lässt sich über die Hintergründe der Charmeoffensive nur spekulieren. Ein Auslöser dürfte sein, dass sich Probleme mit anderen Staaten mehren - derzeit vor allem mit den USA und mit Israel. Auch hat die türkische Seite erkannt, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem wichtigsten Handelspartner Deutschland nicht abgekoppelt von der politischen Kooperation funktioniert. Knirscht es zwischen Berlin und Ankara, bleiben neue Investoren aus Deutschland fern.

„Das sind nicht nur gute Nachrichten, sondern das ist auch eine immense Erleichterung“, erklärt Außenminister Gabriel. „Damit ist das Verfahren noch nicht beendet, aber ein erster, großer Schritt ist damit gemacht.“ Botschafter Erdmann richtet unterdessen den Blick auf andere Bundesbürger, die noch in türkischer Haft sind. „Auch die müssen freikommen“, fordert er.

Jetzt hat der Fall Deniz Yücel Vorrang

Nach Steudtner und Tolu ist jetzt Deniz Yücel an der Reihe, will Erdmann damit sagen. Der Korrespondent der „Welt“ sitzt seit Februar in Haft, ohne dass es eine Anklageschrift oder einen Termin für ein Gerichtsverfahren gäbe. Kürzlich durfte Yücel im Gefängnis von Silivri vor den Toren Istanbuls immerhin die Einzelzelle verlassen; seitdem kann er zumindest beim Hofrundgang mit einem ebenfalls inhaftierten türkischen Journalisten reden.

Für das Auswärtige Amt in Berlin ist das Schicksal des „Welt“-Reporter eine Priorität. „Weiterhin sind Deutsche wie Deniz Yücel unter haarsträubenden Vorwürfen in türkischer Haft,“ verlautet aus dem Ministerium. „Wir setzen uns weiter für sie ein.“

Bei Yücel liegt der Fall jedoch anders als bei Steudtner und Tolu. Zum einen hat Yücel neben dem deutschen auch den türkischen Pass. Zum anderen ist der Reporter von höchster Stelle – von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan selbst – als feindlicher Agent und Terrorist bezeichnet worden. Yücel werde nicht nach Deutschland abgeschoben, solange er im Amt sei, hat Erdogan unter anderem gesagt.