Wie verabschiedet man einen langjährigen Wegbegleiter? Danke, Reid! steht auf manchem T-Shirt, als Reid Anderson zum Schlussapplaus mit Schülern und Lehrern auf der Bühne steht. Foto: Kabatek

Ein Ballettfan ganz nah dran: Die Stuttgarter Autorin Elisabeth Kabatek („Laugenweckle zum Frühstück“) begleitet die Festwoche für Reid Anderson für unsere Zeitung. Am Samstag ist sie dabei, als der Nachwuchs aus der John-Cranko-Schule alles gibt.

Stuttgart - Es ist der Morgen vor der Gala der John-Cranko-Schule, und es regnet. Nach all den trockenen Tagen, ausgerechnet heute! Den Tänzerinnen und Tänzern, die gestern Abend größtenteils auf der Bühne standen, um einen grandiosen „Onegin“ abzuliefern, war nur eine kurze Nacht beschieden. Praktisch die komplette Kompanie steht hinter der Bühne parat – Generalprobe für die Gala! Sie sind alle in voller Montur und perfekt geschminkt und warten auf ihren Auftritt, die Generalprobe ist wie der Ernstfall, und es ist gar nicht so einfach, über die Bühne zu kommen, denn Tutus benötigen ziemlich viel Platz um sich herum, wie ich schnell lerne. Tadeusz Matacz, der Direktor der John-Cranko-Schule, braucht noch ein paar Minuten. Er kann sich gerne Zeit lassen, so lange darf ich im Parkett bei der Generalprobe zuschauen – und natürlich nichts davon verraten! Die Luft knistert geradezu vor Anspannung und Konzentration, ein ganzer Trupp von Leuten beobachtet die Probe, Tamas Detrich gibt per Mikrofon Anweisungen auf Englisch und ruft einmal „Ruhe, bitte!“ Er ist schließlich für die komplette Gala verantwortlich, Reid Anderson wurde in Urlaub geschickt, damit er nicht einmal die Musik zu den Proben durch die Gänge des Opernhauses schallen hört, denn dann wüsste er natürlich sofort, was heute getanzt wird! Und außerdem soll das Wetter bis zum Nachmittag gut werden!

Am Samstag aber geht es erst einmal um den Nachwuchs – um die John-Cranko-Schule und ihren Direktor Tadeusz Matacz. Wir sitzen im Foyer im 1. Rang, im Hintergrund ist noch immer die Musik für die Gala zu hören. Vor zwei Jahren hat er mir erzählt, dass er sich beim Bau der Schule fühlt wie eine Mischung aus Architekt, Bauingenieur und Handwerker. Wie sieht es heute aus? Er seufzt. „Es ist nicht besser geworden. Wissen Sie, ich arbeite schon mein ganzes Leben am Ballett. Da geht es immer um schnelles Verarbeiten, um Reaktion, um Geschwindigkeit. Meine Arbeit gleicht der Arbeit in einem Bienenschwarm, man muss unglaublich wach sein. Beim Bau der Schule geht alles viel schleppender, das ist eine ganz andere Herangehensweise, und die Mühlen mahlen langsam. Das ist für mich eine Geduldsprobe. Ich bin der einzige Ballettspezialist in der Runde, seit der Jahrtausendwende versuche ich Architekten und Handwerkern und dem Hochbauamt in endlosen Sitzungen unsere Nutzungsanforderungen zu vermitteln. Wenn ich eines gelernt habe, dann dies: Für mich heißt optimieren, die beste Lösung zu finden. Wir brauchen das, was wir brauchen. Aber mir wird ständig vermittelt, dass die optimale Lösung die billigste ist.“

Endlich sind die Säulen weg

Und wenn es dann hoffentlich irgendwann geschafft ist, worauf freut er sich dann am meisten?

„Zunächst müssen wir den Umzug schaffen, das wird noch einmal ein riesiges Logistik-Problem. Aber dann haben wir acht Ballettsäle, vier große mit je 210 Quadratmetern und vier kleine mit je 135 Quadratmetern - die kleinen sind so groß wie unser jetziger großer Raum.“

„Und ohne Säulen!“ Diese Säulen, die Reid Anderson in den Wahnsinn getrieben haben!

„Genau, ohne Säulen! Das ist dann Weltniveau, endlich. Die Probebühne wird genauso groß sein wie die Bühne im Opernhaus, wir können dann 1:1 proben. Ich habe gesagt, die Dimensionen müssen so groß sein wie das größte Bühnenbild im Opernhaus, das ist im Moment ,Lulu’, und das könnten wir dort in der Schule machen. Jetzt geht es an das Feintuning, das ist auch nicht so einfach. Stellen Sie sich vor, jetzt wollen die Bauherren spezielle Stühle für die Kompanie gestalten – dabei hocken die bei der Probe immer nur auf dem Boden! Ich habe ja keine Vorbilder, es ist die einzige Ballettschule weltweit, die neu gebaut wird, alle anderen Schulen sind in Gebäuden untergebracht, die umgenutzt wurden. Mit der neuen Schule sind wir endlich konkurrenzfähig.“

„Konkurrenzfähig? Reißt sich der Nachwuchs denn nicht darum, nach Stuttgart zu kommen?“

„Es ist nicht so, dass der Name Stuttgart allein genügt! Weltweit reißen sich alle Ausbildungsstätten um Talente. Wir sprechen hier ja von 14-16-jährigen. Ein Umzug nach Stuttgart ist für viele ein größeres Problem als ein Umzug in ein englischsprachiges Land, wegen der deutschen Sprache. Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass wir der Nabel der Welt sind, es ist keine Selbstverständlichkeit.“

„Wenn Sie einen Schüler oder eine Schülerin für die Schule in Betracht ziehen, schauen Sie da auch nach der Persönlichkeit?“

Nicht pushen, eher bremsen

„Heute suchen wir den Nachwuchs vor allem bei Wettbewerben. Die tanzen da vierzig Sekunden bis maximal zwei Minuten. Da muss ich blitzschnell entscheiden. Vortanzen, hier bei uns, das machen wir praktisch nicht mehr, die Bewerbungen kommen alle per Videos. Bei 14-, 15-, 16-Jährigen kann man noch nicht von Persönlichkeit sprechen, die Reife kommt später mit der Erfahrung. Was mich erschreckt: Das technische Niveau klettert immer weiter in die Höhe. Wo sind die Grenzen des menschlichen Könnens? Und dann schauen Sie sich an, was aus Stars wie Michael Jackson wird, wenn man sie zu sehr pusht. Nicht so sehr pushen, nicht so viel anheizen! Ich bremse eher. Unser erster Job ist die Ausbildung.“

Und worauf freut er sich am meisten bei der Gala?

„Ich habe bei der Auswahl natürlich an Reid gedacht. Aber das ist kein Programm, um das Publikum zu blenden, sondern um zu zeigen, wo wir stehen. Vergessen Sie nicht: Das sind Kinder und Jugendliche! Auch wenn sich jetzt schon abzeichnet, dass in den nächsten Jahren drei, vier Superstars aus der Schule kommen.“

Die Superstars von morgen, wird man sie bei der Gala entdecken? Ob das Stuttgarter Publikum mit seinem geschulten Blick schon gesehen hat, wo die Talente schlummern? Zum Glück regnet es abends nicht mehr, die frühere Solistin Sonia Santiago verbreitet bei Ballett im Park als Moderatorin gute Laune. Im Opernhaus sind heute auffällig viele Kinder, wahrscheinlich haben sie Geschwister in der John-Cranko-Schule oder träumen von einer Karriere beim Ballett. Die Stimmung ist festlich, jeder Platz ist besetzt. Der Abend beginnt mit den älteren Tänzerinnen und Tänzern, die die wunderschöne Choreografie „Air“ von Uwe Scholz tanzen. Erst 23 Jahre alt war Uwe Scholz, als er dieses zeitlos ästhetische Stück 1982 für das Stuttgarter Ballett (damals unter Marcia Haydée) schuf. Sechs Paare in den Farben Vanille, Schoko und Rost stehen auf der Bühne und tanzen mit großer Leichtigkeit und Freude auf die Musik von Johann Sebastian Bach, die sich ganz wunderbar fürs Ballett eignet. Im zweiten Satz entstehen immer neue, wunderschöne Bilder, die man wegen des langsamen Tempos so richtig auskosten kann - im dritten Satz gibt es eine erste Kostprobe davon, was die Männer an gewaltigen Sprüngen draufhaben! Nach diesem fulminanten Auftakt gibt es eine sehr kurze, sehr bewegende Rede von Tadeusz Matacz.

Ein Höhepunkt reiht sich an den anderen

„Wie kann man einen langjährigen Freund verabschieden? Alle Worte scheinen mir so unpassend, bis auf diese“ – er deutet auf sein T-Shirt, auf dem „Danke, Reid“, steht. Dann erzählt er die Anekdote, wie er in seiner Anfangszeit als Direktor der John-Cranko-Schule zum Intendanten ging und ihm tausend Fragen stellte. „Das ist deine Schule, mach, was du willst!“, war die Antwort. Es ist dieser Rückhalt, die Loyalität von Reid Anderson, die Tadeusz Matacz besonders herausstreicht.

Nun aber weiter im Programm, und jetzt gibt es gleich einen Knaller. Aina Oki und Motomi Kiyota tanzen „Sylvia Pas de deux“ von George Balanchine, und die beiden aus Japan stammenden Tänzer sind einfach atemberaubend! Aina dreht Pirouetten, dass einem schon beim Zuschauen schwindlig wird, und Motomi beeindruckt nicht nur in diesem Stück mit ungeheuer hohen und kraftvollen Sprüngen. Dann geht es gerade so weiter, mit Marco Goeckes „A spell on you“, von drei Tänzern und einer Tänzerin in rasendem Tempo so unfassbar perfekt getanzt, dass man nicht glauben mag, dass man es hier nicht mit alten Hasen zu tun hat – besonders Navrin Turnbull reißt das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Dann kommt schon der nächste Höhepunkt, Wiktoria Byczkowska mit Henrick Erickson und Alexander Smith in „Lamento della ninfa“. Die norwegische Sängerin Ane Brun hat aus Monteverdis Original einen wunderschönen „barocken Popsong“ gemacht, und man hält den Atem an, wie akrobatisch und gleichzeitig ungeheuer ausdrucksstark vor allem Wiktoria dieses Stück von Stephen Shropshire interpretiert.

Man muss sich um die Ballettzukunft in Stuttgart keine Sorgen machen

Aber dann! Nach der Pause! In den „Etüden“ geben alle noch einmal alles. Es geht Schlag auf Schlag. Alle zusammen, dann die Kleinen (und es fällt schwer, sich ein „Hach, sind die süß“, zu verkneifen), dann die Großen, dann wieder buntgemischt. In unterschiedlichen Konstellationen zeigen alle noch einmal, was sie draufhaben, bis zum großen gemeinsamen Finale vor einem Banner, auf dem natürlich „Danke, Reid“, steht. Leider fällt der Applaus sehr kurz und verhalten aus. Schade. Man geht ein wenig betrübt nach Hause.

Das haben Sie jetzt nicht wirklich geglaubt, oder? Es gibt natürlich Standing Ovations, für alle Schülerinnen und Schüler, für alle, die sich um ihre Ausbildung kümmern, für Tadeusz Matacz und natürlich Reid Anderson. Nein. Man muss sich um die Zukunft des Stuttgarter Balletts, das seinen Nachwuchs aus der John-Cranko-Schule rekrutiert, nicht die geringsten Sorgen machen. Im Gegenteil. Auf diesen Nachwuchs darf man sehr gespannt sein und sich riesig freuen! Wir drücken Tadeusz Matacz die Daumen, dass der Neubau zu einem guten Ende findet – der Tag der Einweihung wird ein guter Tag für Stuttgart sein.

Das Wetter hat gehalten, auf meinem Nachhauseweg fängt’s wieder an zu regnen. Glück gehabt! Und nun alle mit dem Picknick und der Decke und vielleicht einem Regenschutz, nur so für alle Fälle, zum „Ballett im Park“! Zur Gala!