Ekrem Imamoglu in Istanbul Foto: AFP

Religiös, volksnah, positiv: Ekrem Imamoglu hat bei der Kommunalwahl in Istanbul Präsident Erdogans AKP das wichtigste Bürgermeisteramt der Türkei abgejagt. Manche halten ihn schon für den nächsten Präsidenten. Doch nun soll die Wahl wiederholt werden.

Stuttgart - Es ist ein hochspannendes Tauziehen am Bosporus: Mehr als zwei Wochen nach der Kommunalwahl in der Türkei hat die islamisch-konservative Regierungspartei AKP eine Annullierung und Wiederholung der Abstimmung in Istanbul beantragt. Seine Partei habe ein entsprechende Forderung bei der Hohen Wahlkommission in Ankara eingereicht, sagte der stellvertretende AKP-Vorsitzende Ali Ihsan Yavuz am Dienstag.

Was geht in der größten türkischen Stadt vor sich? Wahlgewinner Ekrem Imamoglu, so sehen es viele Beobachter, könnte dem mächtigen Staatschef Recep Tayyip Erdogan gefährlich werden. Bei Twitter firmiert er bereits seit dem Montag nach der Wahl als „Istanbul Büyüksehir Belediye Baskani“, als Oberbürgermeister. So trug er sich auch im Kondolenzbuch am Grabmal des Staatsgründers Mustafa Kemal ein, als er dessen Mausoleum in Ankara tags darauf besuchte, um einen Kranz niederzulegen. Aber sein künftiges Amtszimmer im Rathaus hat Imamoglu noch nicht betreten – obwohl er sich gegen Erdogans AKP-Kandidat Binali Yildirim, den früheren Premierminister und Parlamentspräsidenten, durchsetzte. Im Rathaus sitzt immer noch der bisherige Bürgermeister Mevlüt Zysal von der Regierungspartei AKP.

Imamoglu poltert nicht wie Erdogan

Nachdem es zunächst einen knappen Vorsprung für Imamoglu gab, beantragte die Regierungspartei eine neue Auszählung in allen Istanbuler Wahlkreisen. Das Ergebnis: Imamoglu soll jetzt nur noch mit rund 14.000 Stimmen vor dem AKP-Kandidaten Yildirim führen – eine hauchdünne Marge bei mehr als 8,9 Millionen abgegebenen Wahlzetteln. Das die Wahl wiederholt werden soll, war bereits in den letzten Tagen im Gespräch. Staatschef Erdogan sprach von „kriminellen Machenschaften“ bei der Abstimmung. Regierungsnahe Medien schreiben von einem „Putsch an den Urnen“.

Dass Erdogan und seine AKP so erbittert um das Istanbuler Rathaus kämpfen, hat Gründe. „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“, hatte Erdogan vor der Abstimmung erklärt und am letzten Tag des Wahlkampfs nicht weniger als sieben Kundgebungen am Bosporus veranstaltet. Dass Yildirim trotzdem nicht gewonnen hat, ist auch blamabel, weil Istanbul Erdogan besonders am Herzen liegt. Hier ist er aufgewachsen, hier begann er 1994 als Bürgermeister seine politische Laufbahn.

Bisher galt Erdogan als unbesiegbar. Aber in Imamoglu hat er einen Kontrahenten gefunden, der ihm Paroli bieten kann – und zwar auf seine Weise. Während Erdogan polterte und polarisierte, führte Imamoglu einen positiven Wahlkampf, verzichtete auf Angriffe, gab sich volksnah und präsentierte sich als künftiges Stadtoberhaupt für alle Bürger Istanbuls. Der heute 49-jährige Betriebswirt, der das familieneigene Bauunternehmen führte, ging erst vor neun Jahren in die Politik. 2014 wurde er zum Bezirksbürgermeister des Istanbuler Stadtteils Beylikdüzü gewählt.

Dass er kein Berufspolitiker ist, dürfte dem Vater von drei Kindern ebenso geholfen haben wie der Umstand, dass er als gläubiger Muslim auch religiös orientierte Wähler anspricht. Imamoglu, der „Sohn des Imams“, so die Bedeutung seines Namens, besuchte im Wahlkampf oft Moscheen, was ungewöhnlich ist für einen Kandidaten der strikt säkular ausgerichteten CHP, für die Imamoglu antrat. Von seiner Familie heißt es, sie steht der nationalistischen MHP nahe. Das macht Imamoglu auch für rechtskonservative Kreise wählbar. Und weil die pro-kurdische HDP in Istanbul auf einen eigenen Kandidaten verzichtete, bekam Imamoglu überdies die Stimmen vieler kurdischer Wähler.

„Die Guten werden gewinnen“

Diese breit gefächerte politische Akzeptanz macht den Kommunalpolitiker, von dem vor einigen Monaten nur wenige überhaupt gehört hatten, für Erdogan zu einem so gefährlichen Gegner. Deshalb setzt die AKP jetzt alles daran, seinen Einzug ins Istanbuler Rathaus zu verhindern. Imamoglu wirft der Regierung vor, sie wolle mit den Anträgen auf neue Auszählungen und Neuwahl Zeit gewinnen – Zeit wofür? Zu gern würde der Bürgermeister in spe wissen, was in diesen Tagen der Ungewissheit im Rathaus vorgeht. Er habe Hinweise, wonach dort Daten gelöscht und Akten vernichtet würden.

Istanbul wird seit Erdogans erstem Wahlsieg 1994 ununterbrochen von der AKP und ihrer Vorgängerin, der islamistischen Wohlfahrtspartei regiert. Nirgendwo haben die Islamisten im Laufe der vergangenen Jahre so starke Seilschaften aufgebaut. Keine türkische Stadt hat einen so großen Etat wie Istanbul: umgerechnet 3,6 Milliarden Euro in diesem Jahr. Keine andere Kommune vergibt so viele öffentliche Aufträge. Die Opposition kritisiert seit Jahren, die AKP begünstige bei der Auftragsvergabe regierungsnahe Unternehmer. Insider sprechen von einer „Kette der Glückseligkeit“. Auch das erklärt, warum die AKP alles daransetzt, Istanbul nicht zu verlieren.

Erdogan sorgt offenbar bereits vor: Regierungskritische Medien berichten, der Staatschef wolle nun die Finanzhoheit der Kommunen beschneiden. Größere Ausgaben müssten dann vom Präsidialamt genehmigt werden. Das Kondolenzbuch mit Imamoglus Eintrag wurde vom Verteidigungsministerium inzwischen aus dem Atatürk-Mausoleum entfernt – auf Erdogans Weisung, wie es gerüchteweise heißt. Selbst wenn die Wahlkommission gegen alle Proteste der Regierung Imamoglu als neuen Bürgermeister bestätigen sollte – der eigentliche Machtkampf hat wohl gerade erst begonnen. Imamoglu ist zuversichtlich, dass er sich behaupten kann. Er glaubt: „Die Guten gewinnen.“