Die Seele ist britisch, die Ehefrau deutsch: Zwei Pässe hat Steve Bebb. Seit 30 Jahren lebt er in Deutschland. Der Brexit war Anlass für die Einbürgerung. Foto: factum/Simon Granville

Immer mehr Briten beantragen die deutsche Staatsbürgerschaft und sichern sich so die weitere Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Die Zahl der eingebürgerten Engländer hat sich in manchen Kreisen verzehnfacht.

Deckenpfronn - Steve Bebb ist durch und durch britscher Patriot. Obwohl er mit einer Deutschen verheiratet ist und seit 30 Jahren in Deutschland lebt, schlägt sein Herz noch immer für seine englische Heimat. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, einen deutschen Pass zu beantragen. Schon aus Respekt vor seinen Eltern, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg mit dem Hauptfeind Deutschland erlebt hatten. „Auch wenn sie schon lange nicht mehr leben, hab ich mir immer überlegt, was sie wohl sagen würden, wenn ich jetzt plötzlich Deutscher werden würde.“

Dann kam der Brexit – und nun ist Steve Bebb Deutscher. Vor sieben Monaten erhielt er die Einbürgerungsurkunde. Nie wird der 62-Jährige, der in Deckenpfronn ein Häuschen besitzt, jenen „schwarzen Donnerstag“ im Juni 2016 vergessen, als die Mehrheit der Briten im Vereinigten Königreich für den Austritt aus der EU stimmte. Für Steve Bebb und seine Familie brach eine Welt zusammen. „Meine Kinder sind beides: stolze Briten und stolze Deutsche“, sagt er. „Wir konnten alle nicht fassen, was passiert ist. Meine Tochter, damals in Asien, rief frühmorgens an und hat sich über das Brexit-Ergebnis informiert. Sie heulte am Telefon.“

Vor dem Brexit gab es kaum britische Interessenten

Bebb, der damals noch bei HP in Böblingen arbeitete, hatte Angst. „Ich konnte nicht einschätzen, was der Brexit für mich bedeutet, ob ich hier weiter arbeiten kann.“ Deshalb reifte der Entschluss, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Damit ist Bebb einer von 70 Briten im Kreis Böblingen, die im vergangenen Jahr Deutsche wurden. Das sind zehnmal mehr als noch im Jahr 2015. Nicht anders sieht es in anderen Landkreisen der Region aus.

„Vor 2017 hatten Briten nie Interesse an einer Einbürgerung“, sagt Sabine Burkard, die Pressesprecherin des Enzkreises. „Seither sind die Briten stets in unseren Top 5 bei den Einbürgerungen vertreten.“ Am deutlichsten ist der Anstieg in Stuttgart. Dort gab es zwischen 2014 und 2016, dem Jahr, als die Brexitentscheidung fiel, insgesamt 13 Einbürgerungsanträge von Briten.

Seither haben mehr als 300 britsche Staatsangehörige einen Antrag gestellt, 244 wurden eingebürgert. 61 Briten erhielten 2019 im Kreis Esslingen den deutschen Pass – vor dem Brexit-Jahr 2016 waren es jährlich null bis drei. Im Rems-Murr-Kreis stieg die Zahl der neuen Deutschen britischer Herkunft von 6 vor dem Brexit-Referendum auf 55 im vergangenen Jahr. Landesweite Zahlen liegen für das Jahr 2020 noch nicht vor, dürften aber vermutlich in die gleiche Richtung gehen wie in der Region.

EU-Bürger dürfen mehrere Staatsangehörigkeiten haben

„Es gab für mich vor dem Brexit-Entscheid ja keinen Grund, mich einbürgern zu lassen“, sagt Steve Bebb. „Ich hatte alle Rechte. Der einzige Nachteil war, dass ich bei Landtags- und Bundestagswahlen nicht mit abstimmen durfte.“ Die Einbürgerung erleichtert hat dem 62-Jährigen nicht nur die Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft in Deckenpfronn, wo er seit 20 Jahren lebt und im Gesangsverein den zweiten Tenor singt. „Entscheidend war, dass ich als Noch-EU-Bürger meinen britischen Pass behalten durfte“, sagt Bepp. Noch ist ungewiss, wie es mit der EU und Großbritannien weitergeht. Und auch, was das für Doppelstaatler bedeutet. Doch Bepp stellt klar: „Sollte ich jemals gezwungen werden, mich zwischen der deutschen und der britischen Staatsangehörigkeit entscheiden zu müssen, dann wähle ich die britische.“

Trotzdem sei er froh, durch den Doppelpass nun EU-Bürger bleiben zu können. Schon wegen der Reisen mit dem Wohnmobil durch ganz Europa, die er nun, als neuer Ruheständler, mit seiner Frau plant. Viele in seiner englischen Verwandtschaft würden ihn um seinen Status beneiden. „Meine Neffen und Nichten sagen: ‚Schade, dass wir nicht auch einen EU-Pass haben können.“

Einbürgerungsrekord im Kreis Böblingen

Nicht nur Briten drängen verstärkt auf den deutschen Pass. Auch insgesamt ist die Zahl der Einbürgerungen im vergangnen Jahr gestiegen. Einen Einbürgerungsrekord verzeichnet der Landkreis Böblingen mit 973 Neubürgern. Neun Jahre zuvor waren es nur 636 Neubürger gewesen. Aus 80 verschiedenen Nationen stammen die Eingebürgerten, die meisten aus der Türkei, Rumänien und Italien. 40 Prozent der Neubürger haben als EU-Ausländer einen Anspruch auf die doppelte Staatsbürgerschaft. Ganz bewusst hatte der Landkreis in vergangenen Jahr mit einer Einbürgerungskampagne um diese Zielgruppe geworben.

Ganz ohne Kampagne stieg die Zahl neuer Deutscher auch in den Kreisen Esslingen und Rems-Murr: mit 1126 Neubürgern verzeichnete Esslingen sogar fast 300 mehr als noch zwei Jahre zuvor.

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