Frank-Walter Steinmeier gedenkt in Halle/Saale den Opfern des Anschlages. Foto: dpa/Hendrik Schmidt

Ein Jahr nach dem rechtsterroristischen Angriff auf die Synagoge in Halle gedenkt die Stadt der Opfer. Der Schock sitzt immer noch tief.

Halle - Um kurz nach 12 Uhr tönt das hebräische Friedenslied aus dem Glockenspiel im Roten Turm von Halle - genau ein Jahr, nachdem ein Terrorist die ersten Schüsse auf die Synagoge der Stadt abfeuerte. „Hevenu Shalom alechem“ lautet der Text: Wir wollen Frieden für alle. Hunderte Menschen haben sich am Freitag auf dem Marktplatz vor dem Wahrzeichen der Stadt versammelt, um an die Opfer des rechtsextremen und antisemitischen Anschlags zu erinnern, der das ganze Land erschütterte.

Das Gedenken auf dem Marktplatz weckt Erinnerungen an die Szenen in den Tagen nach dem Gewaltakt. Schon damals erklang hier das hebräische Lied, wie damals wollen die Menschen hier ein Zeichen setzen - dass sie den Hass und die Gewalt, die der Attentäter nach Halle brachte, nicht in ihrer Stadt haben wollen. An der Marktkirche hängt ein Transparent mit dem Versprechen: „Unsere Liebe ist stärker als der Hass“. Daneben brennen Kerzen, liegen Rosen und ein Engel aus Porzellan.

Am 9. Oktober 2019 hatte ein Terrorist mit selbst gebauten Waffen das Feuer auf die Synagoge in Halle eröffnet. Darin feierten gerade mehr als 50 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Sein Gewehr konnte das Schloss der Holztür nicht durchbrechen, seine Spreng- und Brandsätze, die er aufs Synagogen-Gelände warf, verpufften fast wirkungslos vor dem Gotteshaus.

28-Jähriger hat Taten gestanden

Offenbar wahllos erschoss der Terrorist schließlich die 40 Jahre alte Jana L., die gerade an der Synagoge vorbeikam, und später den 20 Jahre alten Kevin S. in einem Dönerladen. Auf seiner Flucht verletzte er weitere Menschen, bevor ihn die Polizei festnehmen konnte. Der heute 28 Jahre alte Deutsche Stephan Balliet hat die Tat gestanden und mit kruden, menschenverachtenden Verschwörungstheorien begründet. Seit Juli steht er vor Gericht, ein Urteil wird im Dezember erwartet.

Am Freitag sollte es in Halle aber ausdrücklich nicht um den Attentäter gehen, sondern um die Menschen, die er getötet, verletzt oder für immer traumatisiert hat. „Heute ist der Tag für Kevin und Jana“, sagt Ismet Tekin. Er war damals in dem Dönerladen angestellt. Sein Bruder war vor Ort, als der Terrorist in das Geschäft stürmte und um sich schoss, Ismet Tekin kam kurz nach dem Attentat in den verwüsteten Laden, den er heute betreibt. „Seit einem Jahr fühl ich mich gleich“, sagt er. Das Jahr sei „nicht leicht“ für ihn und seinen Bruder gewesen. Nur mit Hilfe seiner Familie und seines Glaubens schöpfe Tekin jeden Tag neue Kraft.

Am Freitag enthüllt er gemeinsam mit seinem Bruder und dem Opferbeauftragten der Bundesregierung, Edgar Franke, vor dem Imbiss eine Gedenkplakette, die an den Anschlag und die Toten erinnert. Eine solche Plakette hängt nun auch vor der Synagoge - dort enthüllt von einem Überlebenden aus dem Gotteshaus mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, und dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier legt an beiden Tatorten Kränze nieder.

Steinmeier ruft zu Haltung gegen Antisemitismus auf

Auf der zentralen Gedenkfeier am Abend ruft das Staatsoberhaupt dazu auf, Haltung gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit zu zeigen. Antisemitismus sei ein Seismograph für den Zustand der Demokratie. Je offener er sich äußere, desto stärker seien Werte, Toleranz und Achtung der Menschenwürde angefochten. „Deshalb muss es uns alarmieren, wenn Kritiker der Corona-Maßnahmen alte antisemitische Verschwörungstheorien neu aufleben lassen und sie millionenfach verbreiten“, sagt Steinmeier.

Auch die Teilnehmer der öffentlichen Gedenkveranstaltungen betonen, wie wichtig es ist, Haltung anzunehmen und die Toten nicht zu vergessen. Eine Hallenserin erinnert sich mit Gänsehaut noch ganz genau, wie es damals war, als sie die unfassbaren Nachrichten gehört hat. „So etwas wie in Halle darf nie wieder geschen“.

Der Schock sitzt nach einem Jahr noch tief in Halle und die Bekundungen, die Opfer nie zu vergessen, sind allgegenwärtig. Dennoch müsse das Leben weiter gehen, sagt eine Frau auf dem Marktplatz. Und das tut es auch. An den Orten des Gedenkens herrscht in der Saalestadt an diesem Freitag andächtiges Schweigen. Von einem Stillstand der ganzen Stadt, wie er am 9. Oktober vor einem Jahr zu beobachten war, ist am ersten Jahrestag aber keine Spur.