In einem Hunsrück-Dorf groß geworden: der Filmemacher Edgar Reitz Foto: dpa

Ist das Dorf tot? Oder hat es eine Zukunft? Der Filmregisseur und „Heimat“-Experte Edgar Reitz hat auf Einladung des BDA Baden-Württemberg über die Provinz diskutiert – und von eigenen Erfahrungen erzählt.

Stuttgart - Der Patient kämpft um sein Leben. Oder ist er gar schon tot? Nahezu ausgeblutet liegt er am Boden. An die Stelle der einst vitalen, sozial engmaschigen Dorfgemeinschaften sind anonyme Einfamilienhaus-Schlafsiedlungen getreten; die Tier-Massenfabrikation mit vierstelligen Großviehstückzahlen pro Hof hat der geranienbekränzten Holzstadl-Idylle den Garaus gemacht hat. Kein Laden, kein Wirtshaus, und die Jugend macht die Düse. Nur die Durchgangsstraße lebt.

Wer und was ist schuld am Siechtum des Dorfes? Das fehlende Datenbreitband, die Mut- und Ideenlosigkeit der Politik? Während alle Welt über die berstenden Städte, Wohnungsnot und Immobilienwahn redet, setzte der BDA Baden-Württemberg in seiner Wechselgespräch-Reihe einen Kontrapunkt: „Comeback – Das Dorf“ war das Thema einer Runde aus Dorf- und Provinz-Experten, mit Nadja Häupl vom Lehrstuhl für Nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land an der TU München, zudem Mitglied der Jury des Europäischen Dorferneuerungspreises, und dem Münchner Architekten Florian Nagler, der viel und zeitgenössisch auf dem Land (und in der Stadt) baut, ohne Tradition und Herkunft zu verleugnen. Es dürfte aber vor allem der Anwesenheit des Münchner Filmregisseurs und „Heimat“-Experten Edgar Reitz geschuldet gewesen sein, dass der winzige Wechselraum, in dem der Landesverband des Bundes Deutscher Architekten seinen Sitz hat, am Montagabend zum Brechen voll war.

Mit 18 hielt er es nicht mehr aus

Was sind die Qualitäten des Dorfs? Und wie lassen sie sich in die Zukunft überführen? Florian Aicher, Architekt und Fachjournalist aus Leutkirch, hatte eine zweistündige, zuweilen arg abstrakte Reflexion über das Dorf zu moderieren, in der vor allem Edgar Reitz durch die Kombination von autobiografischer Erzählung und durchdringender Analyse Nachhall erzeugte. Mit 18 Jahren sei er aus der Enge und Indiskretion seines Hunsrück-Dorfs abgehauen, um zwanzig Jahre lang nicht zurückzukehren, „nicht einmal zu Weihnachten“.

Es sei der Traum vom besseren Leben hinter den Feldern, der die Dörfer zerstöre, diagnostizierte der Filmemacher, „eine Fehleinschätzung dessen, was wir Glück nennen“. Während Florian Aicher dem Dorf „Naturnähe, Gemeinschaft und ein höheres Maß an Leiblichkeit“ attestierte, zeigte sich Reitz überzeugt, dass es in der Vorstellungswelt der heutigen Bauern „den Begriff der Schönheit und ein Naturverhältnis“ nicht gebe.

Wahnsinnig hässliche Sachen

Nadja Häupl ließ sich von den Abgesängen nicht abbringen: „Ich schwärme für das Dorf.“ Die Architektin wies auf mutmachende Beispiele in Südtirol und im Bregenzerwald hin; das Land als „Pendlerstrukturraum“ sei nicht gottgegeben, „aktive Rückkehrer“ könnten die „selbstbestimmte Erneuerung“ vollbringen. Manchen unter den Zuschauern war das „zuviel rosarote Brille“, andere bemängelten den „Bullerbü-Touch“ der Wiederbelebungs-Medizin. Florian Nagler, der wie Reitz den einstigen „Bauernstolz durch Wirtschaftsfunktionalismus“ ersetzt sah und von „wahnsinnig hässlichen Sachen“ in den Dörfern berichtete, wollte den Patienten aber nicht aufgeben: Er setze auf das „gut gebaute Beispiel“ und gab sich zukunftsoffen: „Ich sehe positiv ins Land“. Manchmal leben Totgesagte länger.