Die vielen Heimkinder haben das Leben in Hochdorf seit dem Krieg geprägt. Foto: Factum/Weise

Die Evangelische Jugendhilfe hat die zum Teil sehr dunkle Geschichte des Kinderheims Hochdorf aufarbeiten lassen. Die Dokumentation wurde zuerst an die Ehemaligen verteilt.

Remseck - Wer die Worte Kinderheim und Nachkriegszeit hört, ist mittlerweile alarmiert. Unverzüglich stehen Fragen nach der Prügelstrafe, sexuellem Missbrauch oder – weil sich die meisten Heime in konfessioneller Trägerschaft befanden – religiöser Gewalt im Raum. Auch Claudia Obele, die Vorstandsvorsitzende der Evangelischen Jugendhilfe Hochdorf, hatte Angst vor dem, was in den Akten über das Kinderheim im Remsecker Teilort zu finden sein würde. Vor zwei Jahren hat sie einen Historiker beauftragt, die Heimgeschichte zu dokumentieren.

„Ich wollte nicht überrascht werden wie die Brüdergemeinde in Korntal-Münchingen“, sagt Obele. Dadurch, dass dort ein ehemaliges Heimkind die schlimmen Zustände in den fünfziger und sechziger Jahren öffentlich gemacht und die Brüdergemeinde damit konfrontiert habe, sei „der Verständigungsprozess von vornherein missglückt“ gewesen. Sie hat darum vor acht Jahren erstmals einstige Heimkinder zu einem Ehemaligentreffen nach Hochdorf eingeladen. Seither trifft sich alle zwei Jahre eine Gruppe von bis zu 50 Personen zum Gespräch. „Manche weigern sich zu kommen“, sagt Obele. Wer dort traumatische Erfahrungen gemacht habe, mache einen Bogen um das Heim.

Unterfinanzierte Kinderheime

Außerdem hat Obele den Historiker Bastian Loibl beauftragt, eine Dokumentation zu verfassen. Diese wurde beim diesjährigen Treffen der ehemaligen Heimkinder am Sonntag vorgestellt. Untersucht wurde die Zeit von 1944 bis 1975. Anfangs waren dort nur Säuglinge und Kleinkinder aus dem von Bomben bedrohten Stuttgart versorgt worden – und zwar von den Aidlinger Schwestern. Nach Kriegsende wurden vor allem Kriegswaisen und Flüchtlingskinder aufgenommen. 1955 übernahmen die Diakonissen das Haus.

Hochdorf sei ein relativ kleines Heim gewesen, darum seien auch alle Akten im Haus aufbewahrt worden. Bei manchem, was nun in der Dokumentation nachzulesen ist, habe sie„schon schwer schlucken müssen“, sagt Obele, „aber insgesamt bin ich doch auch ein bisschen froh“. Die Verhältnisse waren schlimm, aber offenbar nicht für alle und zu allen Zeiten gleich schlimm. Die Unterdrückung war wohl weniger systematisch als einem System der knappen Kassen geschuldet.

Drei Diakonissen haben bis zu 60 Kinder aller Altersstufen betreut. „Die Pädagogik der in Hochdorf wirkenden Diakonissen kann in ihrem zeitlichen Umfeld als nahezu fortschrittlich und moderat bezeichnet werden“, resümiert der Historiker Loibl. Aktenkundig ist dennoch, dass die Prügelstrafe an der Tagesordnung war, dass ein strenges Regiment geführt wurde und dass es offenbar auch zu sexuellen Übergriffen gekommen ist. Mindestens ein Fall von sexuellem Missbrauch ist dokumentiert, die Ehemaligen berichten von weiteren Fällen, die aber auch ihnen nur vom Hörensagen bekannt sind.

Hohe Selbstmordrate

Auch wenn er sich selbst zu denen zählt, die unter diesen Bedingungen „Glück“ hatten, so kann auch Uwe Breitling viele Geschichten von Diskriminierung und Benachteiligung erzählen. Außerdem hat der 57-Jährige, der von 1963 bis 1976 im Hochdorfer Heim war, festgestellt, dass ein ungewöhnlich hoher Anteil von Personen seines Jahrgangs bereits gestorben ist.

Er hat viele Werdegänge nachverfolgt, weil er seine Freunde und Leidensgenossen von einst zum Ehemaligentreffen einladen wollte. „Aber mindestens 20 von ihnen leben nicht mehr“, sagt Breitling. Einige seien an den Folgen von Alkohol- und Drogenmissbrauch gestorben und unverhältnismäßig viele hätten sich umgebracht.

„Ich war schon entsetzt, als ich erfahren habe, dass hier die Menschenwürde mit Füßen getreten wurde“, sagt Günter Baumgärtner, der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Evangelischen Jugendhilfe Hochdorf. „Erst recht darüber, dass das alles im Namen der Kirche geschehen ist.“