Der Grünen-Stadtrat Gerhard Veits schaltet sich in die Hybridsitzung des Wieslocher Gemeinderats ein. Foto: privat

Digitale Ratssitzungen könnten das Infektionsrisiko senken. Doch eine Aufstellung des Innenministeriums belegt, dass kaum eine Kommune Gebrauch davon macht. Woher kommt die Scheu vor virtueller Demokratie?

Stuttgart - Trotz steigender Infektionszahlen wollen offenbar die wenigsten Städte und Gemeinden die neue Möglichkeit von Onlinesitzungen ihrer Gremien nutzen. Wie das Innenministerium auf eine Anfrage der FDP-Landtagsfraktion mitteilt, hätten bisher lediglich 24 von 1101 Kommunen im Land ihre jeweiligen Gemeindeordnungen entsprechend geändert. Dies ist die Voraussetzung, um auch im kommenden Jahr die digitalen Sitzungsformate zu nutzen.

Gegenwärtig gilt eine Übergangsregelung aus dem April, mit der auf vielfachen Wunsch von Städte-, Gemeinde- und Landkreistagen solche digitalen Sitzungen unter den Bedingungen der Pandemie zugelassen wurden. Erfahrungen mit dem neuen Instrument hätten aber nur sieben Kommunen gesammelt, wie das Ministerium von Innenminister Thomas Strobl (CDU) einräumt.

Kein Bedarf im Sommer

Demnach beriefen Tübingen und Wiesloch (Rhein-Neckar-Kreis) mehrfach so genannte Hybridsitzungen ein. Dabei trifft sich eine Minderheit der Räte im Ratssaal unter Abstandsbedingungen, der Rest schaltet sich online zu. In Bietigheim, Dettingen an der Erms, Obernheim, Sindelfingen und Schwarzach blieb es bei jeweils ein oder zwei digitalen Sitzungen. Alle anderen Gemeinderäte zogen für ihre Sitzungen lieber in größere Räume um.

Offenbar sei wegen der niedrigen Infektionszahlen im Sommer vom neuen Instrumentarium wenig Gebrauch gemacht worden, heißt es in der Zusammenstellung des Innenministeriums, die unserer Zeitung exklusiv vorliegt. „Nachdem das Infektionsgeschehen stark zugenommen hat, wird der Bedarf voraussichtlich steigen“, prophezeit das Ministerium. So hätten im Oktober und November bereits die Kreistage von Böblingen und Tübingen digital getagt.

Nur in absoluten Ausnahmefällen

Der innenpolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Ulrich Goll, erklärte hingegen, die geringe Nutzung belege die „erheblichen Mängel der beschlossenen Regelung“. Im Innenministerium sieht man dennoch keinen Korrekturbedarf. „Angesichts der erheblichen Bedeutung von Gremiensitzungen für die Diskussionskultur und die repräsentative Demokratie vor Ort“ habe man Sitzungen ohne persönliche Anwesenheit auf „absolute Ausnahmefälle“ beschränken wollen.

Nach den Vorgaben muss für die Einberufung einer Onlinesitzung ein „schwerwiegender Grund“ vorliegen. Der Bürgermeister, Oberbürgermeister oder Landrat müsse in diesem Fall die Begebenheiten vor Ort prüfen, so das Innenministerium. Klare Vorgaben macht das Innenministerium für diese Prüfung nicht. Das Risiko, dass Entscheidungen, die auf diese Weise zustande kommen, nicht rechtssicher sein könnten, werde auf die Gemeinden abgewälzt, kritisierte Goll. So warnt der Städtetag davor, etwa Bebauungspläne in Onlinesitzungen zu beschließen. Sie könnten aus formalen Gründen vor Gericht wieder gekippt werden.

Keine Abstimmung am Telefon

Unklar ist auch, was passiert, wenn ein online zugeschaltetes Ratsmitglied wegen technischer Probleme aus der Onlinesitzung fliegt und eine Abstimmung verpasst. Liege der Fehler im Verantwortungsbereich der Gemeinde, „kann dies Auswirkungen auf die Wirksamkeit von Beschlüssen haben“, räumt das Ministerium ein. Es empfiehlt hierfür „ein situationsangepasstes Vorgehen des jeweiligen Vorsitzenden“. Der Bürgermeister könne zum Beispiel sicherstellen, in diesem Fall für die Ratsmitglieder telefonisch erreichbar zu sein. Eine telefonische Teilnahme schließt das Innenministerium aber weiterhin aus. „Das versteht doch kein vernünftig denkender Mensch“, sagte Goll.