Städtische Hinweistafel: hier wird das Fahrverbot für Dieselautos bis einschließlich Euro-4-Norm positiv verkauft. Foto: jan

Von wegen Großstadt: infolge des Dieselfahrverbots schrumpft Stuttgart in den Augen elticher Bürger zur Kleinstadt, stellt Lokalchef Jan Sellner fest.

Stuttgart - Suttgart – mögen Spötter es auch bezweifeln – ist eine Großstadt. Das haben wir sogar schriftlich. Laut einer Begriffsbestimmung der Internationalen Statistikkonferenz von 1887 dürfen sich alle Städte mit wenigstens 100 000 Einwohnern Großstadt nennen. Stuttgart hat nach den jüngsten Zahlen des Statistischen Amtes 614 020 Einwohner, ist zahlenmäßig also über jeden Großstadt-Zweifel erhaben. Von Stuttgarts wahrer Größe sangen bekanntlich schon die Alten: „Stuttgart – Großstadt zwischen Wald und Reben“, ist bis heute der prägnanteste aller Stuttgart-Slogans, auch wenn die Landeshauptstadt längst darüber hinausgewachsen und bis in waldarme Gebiete mäandert ist – bis Hausen im Westen, Stammheim im Norden, Uhlbach im Osten und Vaihingen im Süden.

Stuttgart hat sich entwickelt. Vielfach auch zum Positiven. Das spiegelt sich im gewachsenen Selbstbewusstsein seiner Bürger. Niemand käme mehr auf die Idee, zu erklären oder sich gar zu rechtfertigen, warum er in Stuttgart wohnt, und nicht in München oder Hamburg. Am Neckar, den man kaum sieht, ist trotz bekannter Übel wie dem Wohnungsmangel, im Großen und Ganzen gut sein. Inzwischen gibt es auch ein ausgeprägtes Wir-Gefühl oder besser: viele Wir-Gefühle. Ein Wir-Gefühl der Jüngeren und Hippen, ein Wir-Gefühl der Kulturschaffenden und Kulturgänger, der VfB-Fans, der Gutverdienenden und der Wutbürger. Es gibt ein Wir-Gefühl derjenigen, die aufbrechen und eines derjenigen, die Altes bewahren wollen. „Wir im Süden“, singen die Stuttgarter von Füenf und treffen damit einen Nerv. Kurzum: Der Stuttgarter identifiziert sich mit seiner und die Stuttgarterin mit ihrer Stadt – jenseits der Nationalitäten, von denen es hier 180 gibt. In dieser Hinsicht ist Stuttgart sogar eine Weltstadt.

Das flächendeckende Verbot ist schwer zu verteidigen

Nun aber wird diese Stuttgart-Liebe auf eine harte Probe gestellt. Der Grund ist das Fahrverbot für Dieselautos bis einschließlich Euro-4-Norm. Seit 1. Januar gilt es bekanntlich im gesamten Stadtgebiet, was vielen Autofahrern nicht einleuchten will, da sich die schlechte Luft vorwiegend an neuralgischen Stellen wie dem berühmt-berüchtigten Neckartor zusammenbraut. Da mögen Land und Stadt noch so sehr auf Gerichtsurteile hinweisen. Da können sie noch so eindringlich erläutern, dass die kleine Lösung, nämlich ein streckenbezogenes Fahrverbot, das Problem nur verlagern würde, weil durch den entstehenden Ausweichverkehr andere Straßen stärker belastet würden. Nein, das flächendeckende Verbot ist, um mit einem Wort aus der Fußballersprache zu sprechen, nur schwer zu verteidigen.

Der Sublokal-Patriotismus blüht

Welche praktischen Auswirkungen das Fahrverbot hat, lässt sich nach den ersten zwei Wochen nicht sagen. Allerdings kann man anhand vieler Anrufe und Anfragen feststellen, dass Bürger mental auf Distanz zur Gesamtstadt gehen. Nach dem Motto: Bin ich überhaupt Stuttgart, wenn ich in Riedenberg wohne? Oder in Mühlhausen? Oder in Rohr? Die Verbotszone reicht in dieser Wahrnehmung nicht über Stuttgart-Mitte hinaus. So schrumpft die Großstadt auf die Größe der City, wo nur etwa 21 000 Menschen wohnen.

Für das Stuttgarter Wir-Gefühl ist das nicht gut. Wer legt schon Wert darauf, zur Stadt des Dieselfahrverbots zu gehören? Gleichzeitig erhält der immer schon starke Sublokal-Patriotismus neue Nahrung: Wir Heslacher! Wir Zuffenhausener! Wir Degerlocher! Was haben wir mit diesem Stuttgart zu tun? Schon merkwürdig: Die Stadt wächst, aber so klein wurde sie schon lange nicht mehr gedacht.

jan.sellner@stzn.de