Dina Ugorskaja, aufgenommen von ihrem Mann Ilja Kukuij Foto: Ilja Kukuij

Ein Schubert-Album als Vermächtnis: Die deutsch-russische Pianistin Dina Ugorskaja hat kurz vor ihrem frühen Tod noch einmal gezeigt, was für eine außergewöhnliche Musikerin sie war.

Stuttgart - Die Zeit spielte in Dina Ugorskajas kurzem Leben eine besondere Rolle. Sie hatte nur wenig davon – und sie nahm sich viel. Schon seit Jahren musste die Pianistin damit rechnen, dass sie nicht alt werden würde. Ihr Krebs, „das Biest“, wie sie selbst sagte, kam immer wieder. Doch was machte die 1973 im damaligen Leningrad geborene Musikerin daraus? Sie ließ sich – Zeit. Zeit, die Interpretationen reifen zu lassen, Zeit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Als hätte sie alle Zeit der Welt.

Der ganz große Durchbruch blieb ihr verwehrt

Entstanden sind so im Laufe der Jahre bestürzend schöne „Gesänge der Frühe“ von Schumann, ein später Beethoven, der mit seiner Tiefe und Klarheit zu den bedeutendsten Aufnahmen überhaupt gehört, und ein „Wohltemperiertes Klavier“ von Bach, das völlig neue Erkenntnisse gebracht hat. Der ganz große Durchbruch freilich blieb ihr verwehrt. Da mag ihre Krankheit eine Rolle gespielt haben, aber auch ihr gänzlich unglamouröses Wesen. Eine traurige Binsenweisheit: Das Rennen auf die großen Podien machen oftmals eher die extrovertierten Zirkusstars, nicht die introvertierten Künstler, die so ungleich viel mehr zu sagen haben.

Jetzt also Ugorskajas letzte Solo-Aufnahme: Schuberts große B-Dur-Sonate, dieser eine kleine Ewigkeit dauernde Abgesang auf alles Irdische, dazu die drei nachgelassenen Klavierstücke und die Moments musicaux. Wenige Tage vor ihrem Tod am 17. September hielt sie das Doppelalbum noch in den Händen.

Alles darauf schmeckt nach Abschied (um die ebenfalls früh verstorbene Schriftstellerin Brigitte Reimann zu zitieren). Augenfällig wird dies schon in der optischen Gestaltung: Dina Ugorskajas Mann Ilja Kukuij hat die Pianistin fotografiert, sehr ernst, dem Betrachter zugewandt, dann abgewandt, schräg von hinten – und auf der Rückseite der CD der leere Stuhl, auf dem sie eben noch saß.

Vergleiche mit Svjatoslav Richter

Dina Ugorskaja wählt in der Sonate extrem langsame Tempi – es ist auffallend, wie häufig Kenner den Vergleich zu Svjatoslav Richter ziehen. Jede einzelne Note hat bei ihr eine Bedeutung. Und – das ist ein ganz zentrales Charakteristikum für ihre Kunst – keine einzige Note steht für sich allein. Ihr Schubert zerbröselt nirgends im Ungefähren, sondern sie bringt alles in einen logischen Gesamtzusammenhang.

Eine große Rolle spielt, neben ihrer umfassenden Bildung und tadellosen Spieltechnik, ihr außergewöhnlich feines Klangempfinden – auf der Bühne oder auf Video direkt sichtbar, wenn sie Töne aus dem Unterarm und dem Handgelenk heraus formte. Und noch etwas fällt auf: ihr präzises rhythmisches Timing, etwa im synkopensprühenden Trio der Sonate.

Das gilt auch für den zeitverloren-repetitiven Mittelteil im C-Dur-Klavierstück und sein aufgeregtes Schwesterwerk in es-Moll. Gerade bei diesem zeigt sich, wie Dina Ugorskaja vergleichsweise schlichtem, sperrigem Material beseeltes Leben einhauchte. Vor Jahren schon hat sie in ihrer Einspielung der Chopin-Préludes mit genau dieser seltenen Fähigkeit aufhorchen lassen: aus dem oftmals lärmig heruntergerittenen d-Moll-Schlussstück wurde unter ihren Händen Musik.

So schließt sich mit dieser tief traurigen, doch niemals larmoyanten Doppel-CD der Kreis, der unbedingt so viel größer hätte sein müssen. Eine große Künstlerin sagt hier Adieu.