Ursula Kress und Oliver Hoesch betonen, die Brüdergemeinde sei nicht „im Verantwortungsbereich der Landeskirche“. Foto: factum/Granville

Der Landesbischof äußert sich nicht zum Korntaler Missbrauchsskandal – das übernehmen Ursula Kress und Oliver Hoesch, die Missbrauchsbeauftragte und der Sprecher der Kirche. Im Interview erklären sie, welche Hilfe Opfer benötigen – und kritisieren die Brüdergemeinde.

Korntal-Münchingen - Der evangelische Landesbischof Frank Otfried July hat sich lange nicht mehr öffentlich zum Missbrauchsskandal in Korntal geäußert – das übernehmen jetzt Ursula Kress und Oliver Hoesch, die Missbrauchsbeauftragte und der Sprecher der Landeskirche. Im Interview erklären sie, welche Hilfe die Opfer benötigen, und üben – zaghaft – Kritik an der Vorgehensweise der Brüdergemeinde.

Herr Hoesch, seit 2014 arbeitet die Brüdergemeinde den Missbrauchsskandal auf. Die Rufe nach einer Stellungnahme des Bischofs werden lauter. Doch der schweigt. Warum?
Hoesch: Landesbischof July ist es von Anfang an ein wichtiges Anliegen, um nicht zu sagen eine Herzenssache gewesen, dass die Aufklärung in Korntal rasch, gut und mit hoher Sensibilität für die Opfer erfolgt. An dieser Haltung hat sich nichts geändert. Dementsprechend hat der Bischof immer wieder Impulse gesetzt und angemahnt, voranzukommen, und das auch in durchaus deutlicher Tonlage.
Wegen der verfahrenen Situation hatte die Ex-Ministerin Katrin Altpeter angeregt, dass sich die Landessynode einbringt.
Hoesch: Aber die Synode kann nichts tun, weil sie für Korntal nicht zuständig ist.
Die Brüdergemeindemitglieder haben aber das Recht, die Landessynode mitzuwählen.
Hoesch: Die Landessynode kann kein Gesetz erlassen, das Korntal betrifft. Die Korntaler finanzieren sich selbst. Die Brüdergemeinde ist nicht im Verantwortungsbereich der Landeskirche.
Befürchten sie, dass das Handeln der Brüdergemeinde das Ansehen der Landeskirche beschädigt?
Hoesch: Auch die katholische Kirche kann die Wahrnehmung der Landeskirche beeinflussen. Es sind schon Leute aus der evangelischen Kirche ausgetreten, als die Fälle im katholischen Canisius-Kollegbekannt wurden.
Der Streit in Korntal wird immer heftiger.
Kress: Ich kann nicht erkennen, dass es in Korntal Rückschritte gibt. Ich höre von Frau Baums-Stammberger, der Juristin, die die Opfergespräche führt, dass sie bisher 70 Missbrauchsfälle dokumentiert hat, weitere 20 sollen dazukommen. Sie wird also bald in 90 Fällen Gespräche geführt haben – und diese seien teilweise ganz gut verlaufen. Auch der Wissenschaftler Benno Hafeneger, der die Unterlagen sichtet, ist im Archiv so gut wie durch. In Korntal wird gemacht, was auch wir als Landeskirche in solchen Fällen gemacht haben: Wir haben den Betroffenen Zeit gewidmet, ihr Anliegen vorzubringen.
Die Vorgehensweise in Korntal ist intransparent. Es ist schwierig für die Betroffenen, als Opfer anerkannt zu werden.
Kress: Ich erlebe es viel komplexer. Die einen fordern Zahlungen, den anderen liegt viel daran, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Wieder anderen ist eine Versöhnungsgeste wichtig. Die meisten Menschen sind auch an Geld interessiert. Dann gehen sie weiter und sind bereit zur Aufarbeitung.
Das ist nachvollziehbar, aber man kann den Eindruck haben, dass in Korntal versucht wird, Betroffene auseinanderzudividieren.
Kress: Bei einer solchen Dimension wie in Korntal will man Standards setzen, doch wer Standards setzt, läuft Gefahr, den Einzelnen aus dem Blickwinkel zu verlieren. An dieser Stelle hätte man vielleicht ein wenig sensibler sein müssen. Es gehört Fingerspitzengefühl dazu, Betroffene so gut zu begleiten, dass sie auch unangenehme Dinge ansprechen können.
Es geht um eine Begegnung auf Augenhöhe.
Kress: Ja, genau. Es ist ein hochsensibles System, da reicht kein Verwaltungshandeln. Um etwas schnell abzuwickeln, arbeiten wir mit Standards. Aber die versagen bei dem Thema.
In Korntal gibt es auch Streit unter den Opfern. Kennen Sie ähnliche Fälle?
Kress: Ja, zum Beispiel aus der Aufarbeitung in der Nordkirche, aus Ahrensburg. Aber das ist ein normaler Prozess bei dem, was diesen Menschen geschehen ist.
Wird es gelingen, die Lager zu befrieden?
Kress: Ich weiß nicht, ob es gelingt, dass sich Herr Zander und seine Gruppe auf den Prozess einlassen. Wir wünschen den Korntalern auf jeden Fall, dass dies gelingt.
Detlev Zander ist keine unbedeutende Figur, er hat den Skandal öffentlich gemacht. Will man befrieden, muss man auf alle zugehen.
Kress: Ja. Aber erst einmal muss das Geld kommen. Finanzielle Entschädigung ist die erste Stufe, mit der die Organisation zeigt: Uns ist es ernst. Wenn ich diese Anerkennung bekommen habe, bin ich in der Lage, über den nächsten Schritt der Aufarbeitung nachzudenken.
Es reicht nicht, nur die Mehrheit mitzunehmen?
Kress: Nein, das fände ich schwierig, vor allem wenn ich ein Jubiläum zu absolvieren habe – die Brüdergemeinde feiert ja bald ihr 200-Jahr-Jubiläum. Die Aufarbeitung – das sind Einschnitte, aus denen ich lernen muss. Man blickt zurück, um wieder nach vorne blicken zu können. Aber ich kann nur sinnvoll nach vorne blicken, wenn ich auch lerne anzuschauen, wo ich versagt habe. Wir sind auch als Kirche eine lernende Organisation. Nur so bleiben wir glaubwürdig.
Das bedeutet also auch, gegenwärtige Strukturen zu hinterfragen?
Kress: Ja.
Wie ist bei Ihnen der Prozess gestaltet?
Kress: Wir haben ein Antragsformular erstellt. Dort bitten wir um Angaben wie zum Beispiel zu Zeitpunkt und Räumlichkeiten sowie eine Schilderung der Vorgänge, die das Vorliegen von sexualisierter Gewalt belegen sollen. Schätzt die unabhängige Kommission die Angaben als glaubhaft ein, bekommen die Betroffenen das Geld und wir bieten ihnen Gespräche an.
Die Geldzahlung ist unabhängig davon?
Kress: Das ist ganz wichtig. Die Zahlung ist unabhängig. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es Betroffenen manchmal nicht möglich ist zu erscheinen, weil es ihnen körperlich oder vom Alter her nicht zumutbar ist, hierher zu kommen. Andere wiederum wollen es gerne.
Warum?
Kress: Die unabhängige Kommission arbeitet ja auch im Auftrag des Bischofs und der Landeskirche und nimmt die Betroffenen aus Kirche und Diakonie sehr ernst. In etlichen Fällen wird das wahrgenommen. Wenn es Vorbehalte gibt, gehen wir auf Wunsch auch an einen neutralen Ort für die Aufarbeitung.
Gibt es auch psychologische Betreuung?
Kress: In Einzelfällen haben wir gefragt, ob und wie Betroffenen neben den Anerkennungsverfahren geholfen werden kann, zum Beispiel mit einer Traumatherapie. Es hat auch schon einmal jemand gesagt, dass ihm mit einem seelsorgerlichen Gespräch geholfen wäre. Manche wollen noch einmal an den Ort zurück, wo das alles passiert ist.
Woher wissen Sie, ob jemand die Wahrheit sagt?
Kress: Nach einer formalen Prüfung durch mich nimmt die unabhängige Kommission eine Plausibilitätsprüfung vor. Durch unterschiedliche Kompetenzen prüfen deren Mitglieder zunächst jeder für sich und dann gemeinsam in der Kommissionssitzung die Anträge und entscheiden darüber.
Gibt es viele Fälle, in denen Sie sagen: Das ist nicht plausibel?
Kress: Nein. Die Kommission hat noch keinen Antrag für unbegründet befunden.
Die Landeskirche bezahlt einen Fixbetrag, warum gerade 5000 Euro?
Kress: Wir stehen in Absprache mit der Evangelischen Kirche Deutschland. Würde jede Landeskirche eigene Wege gehen, wäre das schwierig – auch für die Betroffenen. Gleichwohl hat die Nordkirche das getan.
Es gibt also keine einheitliche Summe?
Kress: Doch, für den Bereich Baden-Württemberg ist uns das gelungen. Die katholische Kirche gibt 5000 Euro, die badische Landeskirche ebenfalls. Wenigstens wir, die wir hier räumlich miteinander zu tun haben, sollten von einem Betrag ausgehen.
Hoesch: Das war eine starke Diskussion. Kann man Leid bemessen mit unterschiedlichen Summen? Auch in der Kommission war das am Anfang ein Streitpunkt. Man hat aber erkannt, dass es möglicherweise eine zweite Diskriminierung ist, wenn man sich anmaßt, eine Messlatte anzulegen und zu sagen: Du bekommt 5000 Euro und du 7000 Euro. Deshalb hat man sich für eine einheitliche Summe entschieden. Die Landeskirche will durch diese symbolische Geste deutlich machen, dass sie zu ihrer Verantwortung steht.
Und ein Drittel der Opfer will mehr als Geld.
Kress: Ja, viele haben das Gespräch gesucht. Manche haben auch eine Botschaft an die Kirche: nämlich, sich in Zukunft mehr um die Opfer und nicht um Täter zu kümmern – und etwas zu tun, damit solches nicht mehr geschehen kann.
Wie ist das Feedback?
Kress: Wir haben durchweg positive Rückmeldungen, das freut mich auch. Ich habe immer wieder Personen am Telefon, die sagen, das größte Geschenk sei, das Geld bekommen zu haben, ohne sich in der Beweispflicht zu befinden. Viele haben formuliert, sie seien tief beeindruckt davon und freuten sich ganz arg darüber, dass ihnen endlich jemand geglaubt habe. Das hätten sie bislang nicht erlebt.
Warum gibt es so häufig Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen?
Hoesch: Man liest viel über kirchliche Einrichtungen, aber Dreiviertel der Missbrauchsfälle passieren im familiären Umfeld. Die Kirche steht natürlich wegen ihres moralischen Anspruchs im Fokus.
Kress: Wir sind tätig von der Wiege bis zur Bahre – es gibt kaum einen Lebensbereich, den wir nicht abdecken. Zudem geht es immer auch um Abhängigkeiten. Deshalb haben wir auch ein eigenes Schulungskonzept für Mitarbeiter entwickelt. Wir müssen lernen, was gesunde Nähe ist.
Was ist mit den Tätern?
Kress: Bei den Fällen in der Landeskirche und insbesondere der Diakonie handelt es sich überwiegend um Personen, die verstorben sind. Für uns geht es deshalb vor allem um die Konzepte der Nachfolgeorganisationen. Wir wollen unserem Schutzauftrag nachkommen. Dies erreichen wir durch Selbstverpflichtung, Schutzkonzept oder Schulung der Mitarbeiter – darauf müssen wir Wert legen.
Werden Sie von Behörden kontrolliert?
Kress: Der Bundesbeauftragte verlangt von uns alle zwei, drei Jahre ein Monitoring. Die Frage lautet dann: Wer von welcher Organisation tut etwas für seine Mitarbeiter und Schutzbefohlenen? Auch da müssen wir uns beweisen.