Hat den Ball und die Gesamtlage im Blick: Bundestrainer Joachim Löw Foto: dpa/Federico Gambarini

Joachim Löw freut sich auf das erste Länderspiel mit einer größeren Fankulisse seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie – den Bundestrainer beschleicht vor der Partie in Kiew gegen die Ukraine aber auch ein mulmiges Gefühl.

Stuttgart/Kiew - Der Mann, der in der Reisegruppe des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) wie kein Zweiter ein Gefühl für die Gefahr des Coronavirus hat, stieg am Freitagnachmittag mit einem „riesengroßen Sack voll Respekt“ in Kiew aus dem Flieger. Das Erlebnis in Bergamo, so sagte Robin Gosens, der Linksverteidiger von Atalanta, sei „die größte Negativerfahrung“ seines Lebens gewesen. Bergamo und die Lombardei, das ist die Region, die wie kaum eine andere Gegend in Europa vom Coronavirus heimgesucht wurde. Die Bilder vom Krankenhaus am Stadtrand Bergamos, dem Papst Johannes XXIII., gingen in der ersten Hochzeit der Pandemie um die Welt. Die Krankenwagen standen Schlange. Es dauerte nicht lange, da reihten sich die Leichenwagen ein.

Der deutsche Nationalspieler Gosens war wie seine Teamkollegen aus Bergamo daheim in Quarantäne, wochenlang. Und jetzt muss er ein paar Monate später in einem Risikogebiet seinen Mann stehen. Fußball verrückt wird da also von 20.45 Uhr an gespielt an diesem Samstag in der ukrainischen Hauptstadt.

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Man kämpfe immer noch gegen einen unsichtbaren Gegner, sagte Gosens noch: „Es ist eine Extremsituation, in der jeder aufpassen muss.“ Joachim Löw wollte ihm da nur zustimmen. Der Bundestrainer sprach rund um die Reise ins Risikogebiet Ukraine von einem „mulmigen Gefühl“. Dass an diesem Samstag beim Nations-League-Spiel in Kiew Zuschauer zugelassen sind, wird die Sorgen noch vergrößern, auch wenn Löw am Freitag in Kiew betonte, dass er sich auf die Fans freue und dass zumindest im Stadion alles so geregelt sei, „dass für niemanden eine besondere Gefährdung vorliegt“.

Ob das so ist, wird sich nun zeigen. Es wird also gekickt in Kiew, koste es, was es wolle, und sei es die Gesundheit der Akteure. Die Verträge mit den TV-Anstalten und Sponsoren sind gemacht, die federführende Europäische Fußball-Union (Uefa) will, dass angepfiffen wird, denn Verlegungen oder gar Absagen, das ginge ans Geld. Und die heilige Kuh Fußball soll ja auch zu Corona-Zeiten gemolken werden – auch vom Kiewer Bürgermeister und Ex-Profiboxer Witali Klitschko. Für die Partie gegen die DFB-Elf hat er extra die Corona-Auflagen für Sportveranstaltungen in Kiew gelockert.

Wie beim Supercup

Die Verantwortlichen des DFB wiederum verweisen in diesen Tagen gern an die vertraglichen Verpflichtungen mit der Uefa – jüngst bezeichnete etwa der DFB-Generalsekretär Friedrich Curtius die Länderspiele als „Lebensversicherung“ für den Verband.

All das sind teils Phänomene, die schon beim ebenfalls von der Uefa organisierten europäischen Supercup zwischen dem FC Bayern und dem FC Sevilla im Hotspot Budapest Ende September zu erleben waren. Der europäische Fußball, so scheint es, lebt in Zeiten der Pandemie mehr denn je in seiner eigenen Blase.

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Jetzt steigt das Länderspiel in Kiew – wo sich der DFB-Tross von der Außenwelt isoliert. Abschotten, gewinnen, heimfliegen, so lautet der Plan. Für Profis und Betreuer soll es nur zwei Aufenthaltsorte geben – das Hotel und das Stadion. Etliche DFB-Mitarbeiter, die ansonsten bei jedem Länderspiel im Einsatz sind, traten die Reise nicht an. Die Ansage der DFB-Führung ist klar: Höchste Vorsicht ist geboten. Bundestrainer Löw beschrieb die Ausnahmesituation so: „Wir halten uns an die Auflagen und überwachen auch, dass sich die Spieler daran halten: kein Besuch, Masken im Hotel, Besprechungen in kleinen Gruppen. Wir sind in unserer Blase.“

In der bewegt sich auch der Gegner. Wobei der innere Zirkel beim Gastgeber Ukraine inzwischen extrem ausgedünnt ist. Der Trainer Andrej Schewtschenko beklagt 14 Ausfälle, sechs seiner Spieler wurden positiv auf Corona getestet. Kein Wunder: Die Ukraine verzeichnete am Donnerstag mit 5545 Fällen ein Rekordhoch. Das Virus setzte unter anderem auch drei Torhüter außer Gefecht – in der Not musste nun sogar der 45 Jahre alte Torwarttrainer Alexander Schowkowski einspringen. Er gibt an diesem Samstag aller Voraussicht nach den Ersatzmann.

Die Ängste des Joachim Löw

Trotz der aktuellen Corona-Lage in Kiew sollen nun beim Spiel gegen die DFB-Elf bis zu 21 000 Zuschauer ins Olympiastadion kommen, die dann ein paar international bekannte Gesichter aufseiten des deutschen Teams zu sehen bekommen werden. Denn die zuletzt geschonten Stars des FC Bayern München sowie Toni Kroos und Timo Werner kehren zurück in die Elf von Joachim Löw – der genau bei jenen vielbeschäftigen Spielern mit Blick auf die EM im nächsten Sommer größte Sorgen hat, was deren Belastung angeht.

Löws Angst speist sich aus dem prall gefüllten Terminkalender in den nächsten Monaten. Weil die Saison aufgrund der Pandemie später angefangen hat, aber keine Liga und kein Verband auf ein einziges Spiel verzichten will, wartet ein Mammutprogramm auf Manuel Neuer und Kollegen. Einschließlich der EM-Vorrunde könnten viele Nationalspieler dann insgesamt knapp 70 Partien binnen 278 Tagen in den Knochen haben.

„So eine Saison gab es noch nie“, sagt Löw, der von „einem schwierigen Spagat“ sprach: „Wir müssen schauen, dass die Spieler gesund bleiben.“ Löw nimmt dabei nicht nur sich selbst in die Pflicht, sondern auch die Trainer der Vereine: „Wir alle müssen rotieren – denn wenn wir nicht vorsichtig sind, werden wir alle keine Freude haben im nächsten Jahr.“