Arbeit und das Familienleben zu trennen ist eine Herausforderung. Foto: Markus Bormann

Die Marbacher Diplom-Pädagogin Birgit Gündner zu den Auswirkungen der Coronakrise auf das Familienleben.

Marbach - Die Coronakrise stellt für uns alle eine noch nie dagewesene Situation dar. Die Marbacher Diplom-Pädagogin Birgit Gündner erklärt, zu welchen Problemen dies im häuslichen Bereich führen kann und wie wir diesen Problemen begegnen sollten.

Wir haben Nachrichten aus China gehört, dass in den Zeiten der Quarantäne die häusliche Gewalt auf das Dreifache gestiegen ist. Sind solche Dinge auch hier bei uns zu befürchten?

Das kann durchaus sein. Insbesondere Familien, die es eh schon schwer haben, die vielleicht alleinerziehend sind, in engen Wohnungen wohnen, keinen Garten haben, die haben es jetzt, da ihre Kinder ja auch nicht auf Spielplätze gehen können und nicht betreut sind, natürlich besonders schwer. Und wenn die ihre Bedürfnisse nicht klären können, keine Unterstützung bekommen, sondern in ihrer Not auch aggressiv werden, dann wird das auch bei uns zunehmen.

Was kann man denn tun, damit es möglichst gar nicht erst zu Konfliktsituationen kommt?

Die Coronakrise ist für viele Familien, wenn nicht für alle, eine herausfordernde Situation, denn sie ist ganz neu. So etwas gab es noch nie. Sie ist verbunden mit verschiedenen Belastungen. Wenn Eltern zu Hause arbeiten und die Kinder sind auch zu Hause, dann ist es wichtig, dass eine klare Struktur von der Familie geschaffen wird oder vielleicht sogar von der Schule vorgegeben wird. Ich habe zum Beispiel von einer Schule gehört, dass die Schüler per Video morgens um 9 Uhr begrüßt werden und dann an ihren Tischen sitzen und arbeiten. Aber wenn das nicht der Fall ist, ist es Aufgabe der Familie. Also zu einer bestimmten Zeit die Kinder wecken – das kann ja durchaus etwas später sein als normal. Vielleicht um 8 Uhr. Dann anziehen, frühstücken und ab 9 Uhr arbeiten. Bis um 11 Uhr, dann eine halbe Stunde Pause machen, in der Pause dürfen sie zum Beispiel an ihre Handys und vorher nicht – es sei denn, sie brauchen sie für die Hausaufgaben. Danach nochmal arbeiten und nachmittags dann Zeit für Bewegung und spielen.

Je klarer eine Struktur in der Familie ist – das war jetzt nur ein Beispiel –, umso eher halten sich nicht nur die Kinder sondern auch die Eltern dran. Ich habe auch von einer Firma gehört, die ihren Mitarbeitern im Homeoffice vorschlägt: „Lauft morgens um den Block rum, als wenn ihr zur Arbeit gehen würdet, dann kommt ihr mit einer anderen Haltung an den Arbeitsplatz, als wenn man sich von Zeitung und Frühstückstisch ein paar Meter rüberbewegt.“

Gibt es noch weitere Dinge, die man berücksichtigen sollte?

Was die Schüler betrifft, sollte in den Lernzeiten auch wirklich konzentriert gelernt werden – möglichst ohne Ablenkungen. Wichtig finde ich auch klare Mahlzeiten. Die strukturieren den Tag. Es sollte sich nicht jeder einzeln irgendwann irgendetwas machen, sondern es sollte miteinander gegessen werden. Das ist ja auch das Schöne an der Situation: Trotz der Arbeit zu Hause, die manche Eltern haben, hat man doch mehr Zeit, um miteinander zu kochen, zu spielen oder rauszugehen.

Sie sprechen es an: Dass man mehr Zeit mit der Familie verbringt, sollte ja eigentlich ein positiver Punkt sein. Besteht dennoch die Gefahr, dass es zu viel wird und man sich auf die Nerven geht oder gar mehr?

Grundsätzlich ist es so: Wenn ich für mich gut sorge, wenn ich gut drauf bin und meine wichtigsten Bedürfnisse erfüllt sind, dann erst kann ich in Ruhe auf Herausforderungen reagieren, zum Beispiel auf Lärm von den Kindern oder auf Frust von Jugendlichen. Dieses „für sich sorgen“ ist umso schwieriger, je angespannter die Situation ist. Ganz schwierig finde ich es für die Familien, in denen die Eltern außerhalb arbeiten müssen, aber nicht zu den systemrelevanten Berufsgruppen gehören und deshalb keine Betreuung für die Kinder bekommen. Sie müssen arbeiten, aber die Kinder können nicht in die Kita oder die Schule, und die Eltern müssen das irgendwie managen. Manche Familien haben ja auch noch zusätzlich Sorge um die Großeltern oder um Kranke. Oder sie sind alleinerziehend und können sich nicht abwechseln.

Worauf ich hinaus möchte: Es geht darum, miteinander zu klären, wer braucht was? Ein Familienmitglied braucht z.B. Ruhe. Ein anderes hat sonst im Alltag viele Kontakte zu KollegInnen die jetzt wegfallen, dann fehlt etwas. Ebenso geht es den Jugendlichen mit den Freunden, die sie nicht treffen können. Also kann geübt werden, zuzuhören, dass jede(r) zu Wort kommt und gehört wird mit dem, was sie oder er braucht, so eine Art kleine Familienkonferenz, vielleicht einmal täglich. Manche Wünsche, z.B. zu Freunden zu gehen, sind zwar jetzt nicht möglich, aber es hilft, gehört zu werden, wenn der Frust und Ärger gesagt werden kann. Und es ist gut, wenn Eltern das aushalten und zuhören können. Wenn jemand aber merkt: „Ich kann jetzt nicht mehr, es ist mir zu viel“, dann ist es wichtig, rechtzeitig, bevor es eskaliert, für sich zu sorgen und zum Beispiel zu sagen: Ich muss jetzt mal raus, ich mache jetzt mal einen Spaziergang. Oder ich ziehe mich zurück. Und wenn das nicht möglich ist, vielleicht Freunde anrufen, jemanden, dem man seine Sorgen erzählen kann.

In Ihrer Arbeit ist gewaltfreie Kommunikation ein wichtiger Aspekt. Wenn es zu solchen Konfliktsituationen kommt, gibt es dann Punkte, auf die ich achten kann, damit es friedlich bleibt?

Es ist wichtig, frühzeitig anzufangen. Wenn ich sehr aufgeregt bin und die Situation ist aggressiv, dann ist es ganz schwer, sich auf eine Wortwahl zu besinnen, die hilfreich ist. Das fängt vielleicht schon damit an, dass alle genug Schlaf haben, dass man sich vernünftig ernährt, dass man immer wieder raus geht. Und es ist wichtig, dass man erkennt: Jetzt wird es mir zu viel, jetzt geht es darum zu schauen, wen ich um Unterstützung bitten kann. Oder auch was kann ich tun, damit es uns gut geht. Und schauen: Was brauche ich und was brauchen die anderen? Das ist der Kern der gewaltfreien Kommunikation. Und die höhere Kunst ist es dann, in Situationen, in denen man sich sehr ärgert, den Ärger nicht rauszuschreien und den anderen Vorwürfe zu machen. Es ist zum Beispiel für Kinder oder Jugendliche viel verständlicher, wenn man ruhig, aber nachdrücklich sagt: „Ich brauche jetzt Ruhe“, als wenn man schreit oder schimpft, weil es zum Beispiel laut ist. Dann hört der andere einen Vorwurf, und dann ist die Kommunikation sehr viel schwieriger. Man sollte also möglichst noch in Ruhe „Ich-Botschaften“ senden, auch mal an Freunde, die man zum Beispiel anruft und sagt: „Du ich muss jetzt mal was loswerden, ich kann nicht mehr!“

Gibt es denn aus Ihrer Sicht ein Zeitfenster, wie lange man zum Beispiel innerhalb einer Familie einen solchen Ausnahmezustand bewältigen kann? Oder ist das zu abhängig von der jeweiligen familiären Situation?

Ich denke, es hängt hauptsächlich von der familiären Situation ab. Es ist auch schwierig, einen Zeitraum zu benennen, denn wir hatten eine solche Situation ja noch nie. Ich erlebe Familien, die schon jetzt nach gut einer Woche sagen: „Wir sind ziemlich genervt.“ Das finde ich aber auch in Ordnung. Dann höre ich gerne zu. Denn es ist gut, wenn man das jemandem sagen kann und es nicht in sich reinfressen muss. Das heißt dann auch noch lange nicht, dass die Menschen aggressiv sind. Ich erlebe derzeit Familien, in denen es eher dramatisch ist, und welche, in denen es gut klappt. Es zeigt sich auch, dass Eltern von schulpflichtigen Kindern oft gefordert sind, mehr zu tun, als nur zu Hause zu sein. Sie müssen teils auch die Lehrer-Funktion mit erfüllen. Es reicht dann nicht zu sagen: „Jetzt mach dich an die Arbeit!“ Viele Kinder und Jugendliche kommen mit dieser neuen Situation nicht zurecht, wenn sie selbstständig arbeiten müssen. Da gilt es zu erkennen, ob ein Kind gerade fachliche oder eher psychische Unterstützung braucht. Durch die Frage: „Was brauchst du jetzt“? kann man Klarheit erhalten. So etwas hält man natürlich eher aus, wenn man als Eltern selbst gut drauf ist. Und ich kann Eltern verstehen, die in dieser Situation belastet sind.

Gibt es sonst noch Ratschläge, die sie für unser Miteinander in dieser Ausnahmesituation parat haben?

Da wäre das Stichwort „verlangsamen“. In Stresssituationen neigen wir dazu, sehr schnell zu reden und zu handeln. Das heizt die Situation auf. Wenn ich dagegen in meiner eigenen Ruhe bin und langsamer und ruhiger rede, dann kann ich damit schon viel bewirken. Es kommt gar nicht so sehr auf die Worte an, mehr auf Haltung, Mimik und Gestik. Und man kann Schönes gemeinsam mit den Kindern tun. Spielen, Basteln oder mit den Kindern in den Wald gehen, da die Spielplätze ja geschlossen sind – das ist ja zum Glück noch nicht eingeschränkt. Vor allem für Jugendliche ist es jetzt ein Segen, dass sie durch die Medien Kontakt und Austausch mit ihren Freunden halten können.

Sie haben das Stichwort „verlangsamen“ genannt, oft ist in jüngerer Vergangenheit auch von einer nötigen „Entschleunigung“ des Alltags die Rede. Ist diese Krise ein Stück weit auch eine Chance, hier einen Schritt in die richtige Richtung zu machen?

Das sehe ich auf jeden Fall so. Das sagen ja auch einige Menschen jetzt, dass sie nun mehr Freiheiten haben, ihren Tag zu gestalten und manches ruhiger angehen können, Zeit für sich und für andere haben. Das kann also eine Chance sein. Dieses „Entschleunigen“ das ist in unserer Gesellschaft eigentlich grundsätzlich ein Thema: Wie können wir mehr in Ruhe die Dinge angehen, die wirklich wichtig sind? Wie können wir uns miteinander darauf konzentrieren, was wirklich wichtig ist?