Ankommen und erst mal Deutsch lernen: Flüchtlingskinder in einer Vorbereitungsklasse Foto: dpa

Inklusion und Integration gehören an Schulen längst zur Pflichtaufgabe, müssen vielerorts aber nebenher geleistet werden. Das System, aber auch die Lehrerschaft werde dafür nicht ausreichend unterstützt, kritisierten Experten auf dem Didacta-Bildungsforum.

Stuttgart - Sind Lehrer einfach reformmüde – oder wird ihnen mit den Themen Inklusion, Integration, Individualisierung zu viel zugemutet? Über dieses Thema haben sich Bildungsexperten auf der Didacta kontrovers unterhalten. Lehrer seien „sehr wohl bemüht, die Herausforderungen umzusetzen – und sie tun das, obwohl die Ressourcen dafür nicht zur Verfügung stehen“, sagte Udo Beckmann vom Lehrerverband Bildung und Erziehung (VBE). Mehr noch: „Wir haben das Thema Inklusion in den Schulen bisher hervorragend gewuppt“, behauptete der VBE-Bundesvorsitzende.

Die Kultusvertreter Johannes Bergner (Baden-Württemberg) und Georg Eisenreich (Bayern) sprachen von „gewaltigen Herausforderungen“ (Eisenreich) und einer „extrem großen Zahl an Flüchtlingen“ (Bergner), für die die Lehrerschaft jedoch „großes Verständnis“ aufbringe.

In Hessen haben 77 Grundschulrektoren einen Brandbrief an den Minister geschrieben

Kerstin Ziemen, die an der Uni zu Köln den Lehrstuhl für Pädagogik und Didaktik bei Menschen mit geistiger Behinderung hat, kam hingegen zu ganz anderen Erkenntnissen. Die Realität, so Ziemen, sehe genau so aus, wie kürzlich eine Grundschullehrerin in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ geschildert habe – aus gutem Grund anonym: „Ich unterrichte eine ganz normale Grundschulklasse in Frankfurt. Eine durchschnittliche Klasse sieht heute so aus: Von 25 Kindern können ein Drittel nicht richtig Deutsch sprechen, etwa acht Kinder sind verhaltensauffällig, dazu kommen hochbegabte Kinder, traumatisierte Flüchtlingskinder und noch ein Inklusionskind, das besonderer Förderung bedarf. Auf der Strecke bleiben die paar normalen, unauffälligen, lernbegierigen Kinder, die einfach mitlaufen, weil man als Lehrerin keine Zeit für sie hat.“ Ein Brandbrief von 77 Grundschulrektoren an den hessischen Kultusminister scheint diese Aussage zu bestätigen.

Johannes Bergner ging auf dieses Thema nicht direkt ein. Für Baden-Württemberg, meinte er, sei es „sehr schwierig zu bewerkstelligen“ gewesen, für die rund 30 000 Flüchtlingskinder insgesamt 2000 Vorbereitungsklassen einzurichten. Denn: „Wir haben nicht genügend Ressourcen.“ Der Lehrermarkt sei leer gefegt. Und mittlerweile habe sich herausgestellt: „Viele Schüler brauchen länger als ein Jahr, um in eine Regelklasse zu wechseln.“ Als nützliches Instrument habe sich die Potenzialanalyse erwiesen, sozusagen eine Art pädagogischer Ersterfassung, die man seit Oktober 2016 mit jedem Flüchtlingskind mache, um seinen Lern- und Bildungsstand oder die berufliche Perspektive herauszufinden.

Wegen Lehrermangels werden Personen ohne pädagogische Qualifikation eingesetzt

Zahlenmäßig konnte Georg Eisenreich noch drauflegen: „Wir haben 60 000 Flüchtlingskinder“, berichtete der Münchner Kultusstaatssekretär. Dank guter finanzieller Reserven habe man 3000 Lehrer zusätzlich einsetzen können. Doch auch in Bayern fehle es an Lehrern. Beckmann ergänzte, dies sei ein bundesweites Problem: „Wir müssen Personen ohne pädagogische Qualifikation in die Schulen holen – das darf sich nicht einschleifen.“ Ziemen berichtete, an der Uni zu Köln müssten alle Lehramtsstudierenden das Fach Deutsch als Fremdsprache studieren.

Spracherwerb sei ein zentrales Thema, insbesondere für Flüchtlinge,  sagte Ulrich Jahnke, Referatsleiter bei der Migrationsbeauftragten der Bundesregierung. Insofern sei es problematisch, dass viele Kinder erst mit über drei Jahren einen Kitaplatz erhielten, auch weil die Jobcenter den Müttern von Kleinkindern keinen Job vermittle – Grund sei das Sozialgesetzbuch.

Eine Lehrerin einer Übergangsklasse für Flüchtlinge aus dem Landkreis München beklagte die extrem heterogene Schülerschar. „Eine Vorsortierung wäre super“, meinte sie. Aber die Potenzialanalyse gibt es offenbar nur in Baden-Württemberg. In Bayern, so Eisenreich, sollen die Flüchtlingskinder „erst ankommen und in Übergangsklassen stabilisiert werden“.