Immer mehr Polizisten kommen durch Rangeleien zu Schaden, aber auch Rettungskräfte bleiben von einer massiven Behinderung ihrer Arbeit nicht verschont – wie hier in Bremervörde, als ein Konflikt mit Gaffern nach einem tödlichen Unfall eskalierte. Foto: dpa

Beschäftigte des öffentlichen Dienstes leben mitunter gefährlich. Der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, verurteilt die wachsende Aggressivität in der Gesellschaft. Wirtschaft und Politik trügen eine Mitschuld, meint er.

Stuttgart - Immer öfter zeigt sich eine Verrohung der Gesellschaft mit verbalen Feindseligkeiten oder gar tätlichen Attacken – speziell auf Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. So wurde 2017 mit 74 400 Angriffen auf Polizeibeamte ein weiterer Negativrekord erreicht. Die Entgrenzung hat vielfältige Ursachen, wie der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes (DGB) feststellt.

Herr Hoffmann, Polizisten, Rettungskräfte, Mitarbeiter der Sozialbehörden und viele andere Menschen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, werden beleidigt, bespuckt oder körperlich angegriffen. Wie erklären Sie die zunehmende Aggressivität?

Die Verrohung im öffentlichen Raum ist völlig inakzeptabel – egal, ob Polizistinnen oder Busfahrer, Beschäftigte in Arbeitsagenturen, Lehrerinnen oder Fahrscheinkontrolleure angepöbelt oder angegangen werden. Die Ursachen der alltäglichen Grenzüberschreitungen sind vielschichtig. Doch ich glaube: Dass der Staat über Jahrzehnte in vielen Bereichen öffentliche Güter schlicht zu Tode gespart hat, trägt viel dazu bei. Den Polizisten auf der Straße gibt es heute nicht mehr. Ein Polizeipräsident hat mir neulich gesagt: Meine Jungs sind oft im Einsatz, aber selten Teil des alltäglichen Lebens. So können sie den Menschen nicht mehr das früher gewohnte Sicherheitsgefühl geben.

Verliert der Staat sein Gewaltmonopol, wenn Polizisten nicht mehr als Respektspersonen anerkannt werden? Hilft da nur noch der sogenannte starke Staat?

Das Gewaltmonopol wird zumindest infrage gestellt. Ich glaube aber nicht, dass es dabei um den starken Staat geht. Wir haben es mit einem lang währenden gesellschaftlichen Prozess zu tun – ihn umzudrehen ist anspruchsvoll. Da muss der Staat überhaupt erst mal seine Aufgaben erfüllen können. Denn die Situation hat auch etwas damit zu tun, dass im Bereich Prävention so gut wie nichts mehr stattfindet.

Welchen Einfluss auf das Verhalten der Menschen hat der Verlust an Vertrauen in Politik und Wirtschaft?

Da ist etwas aus den Fugen geraten: Infolge des Dieselskandals sollen die Bürger für Fehler anderer geradestehen, Banken werden mit unvorstellbaren Milliardensummen gerettet, das Fehlverhalten von Managern wird auch noch mit Millionen-Abfindungen belohnt oder Vorstände haben Rentenansprüche von 3000 Euro – am Tag. Solche Meldungen tragen zur Verunsicherung und zum Auseinanderdriften der Gesellschaft bei. Es gibt so etwas wie ein Ohnmachtsgefühl und Kontrollverlust. Das betrifft auch die Fragen: Was passiert mit meinem Job? Werde ich morgen noch gebraucht? Da suchen die Menschen nach sozialen Haltepunkten, die sie immer weniger finden.

Liegen die Ursprünge der Verrohung nicht viele Jahre zurück, wenn man etwa an die Wutbürger bei Stuttgart 21 denkt – einem Projekt, das von der Politik für alternativlos erklärt wurde, egal wie viel es kostet?

Das ist ein Beispiel dafür, dass sich die Menschen bei lokalen Projekten einfach übergangen fühlen.

Auch die Sprache verroht – welchen Anteil daran haben Politiker?

Die Äußerung von Horst Seehofer, Migration sei die „Mutter aller politischen Probleme“, muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland. Die niedersächsische Polizei etwa wirbt seit Jahren dafür, dass Menschen mit ausländischen Wurzeln den Polizeiberuf ergreifen. Es ist auch ein Teil der Deeskalationsstrategie, wenn sie zeigen: Wir sind eine weltoffene Gesellschaft. Als der Innenminister nun das Gegenteil sagte, wurde mir wieder einmal bewusst, wie gedankenlos und leichtfertig einige politische Persönlichkeiten mit Sprache umgehen und damit letztendlich Ressentiments fördern. Das kann auch in aggressives Verhalten oder gar Gewalt münden.

Die Kanzlerin, die SPD-Chefin und die Verteidigungsministerin haben sich jetzt öffentlich für Fehler entschuldigt. Kann das Bemühen, Demut zu zeigen, ein Weg sein, die Distanz zum Volk zu verkleinern?

Fehler einzugestehen kann eine Stärke sein. In den genannten Fällen wäre es aber zunächst einmal gut gewesen, die Fehler gar nicht erst zu machen. Dann muss man sich anschließend nicht entschuldigen.

Radikalisierung findet auch auf den Schulhöfen statt – zeigt sich im mangelnden Respekt vor den Lehrern ein Verfall der Werte?

Unsere Gewerkschaft GEW berichtet in anschaulichen Beispielen, wie Lehrerinnen und Lehrer an Autorität verlieren und teilweise tätlichen Übergriffen von Jugendlichen ausgesetzt sind. Natürlich haben wir enorme Defizite bei den Investitionen in das Personal, in die räumliche und technische Ausstattung. Aber Schulen dürfen auch nicht dafür herhalten, wenn es zu Hause Probleme gibt oder kein Respekt herrscht. Daran sieht man wieder die Komplexität des gesellschaftlichen Auseinanderbrechens. Für die zunehmende Aggressivität in der Gesellschaft gibt es keine einfachen Antworten. Aber genau das machen die Rechtspopulisten: Probleme überstrapazieren und schlichte Lösungen präsentieren.

Selbst frustrierte Staatsbeschäftigte neigen zuweilen radikalem Verhalten zu. Haben die Gewerkschaften das Problem unterschätzt?

Wir haben das Thema seit Langem auf dem Schirm. Schon vor vier Jahren haben wir mit dem damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière über Gewalt im öffentlichen Raum gesprochen. Der Austausch ist erst mal folgenlos geblieben. Dann haben wir mit ihm vor der Bundestagswahl 2017 wenigstens noch die gemeinsame Aktion „Respekt“ hinbekommen.

Braucht es jetzt nicht ein großes gesellschaftliches Bündnis gegen die Verrohung – mit den Gewerkschaften an der Spitze?

Die Gewerkschaften sind Teil der Allianz für Weltoffenheit, in der wir uns mit Arbeitgebern, Religionsgemeinschaften, dem Sportbund und anderen Verbänden engagieren. Gerade haben wir die Mitmach-Initiative „Deutschland #vereint“ gestartet. Denn es gibt die negativen Beispiele, wo es richtig eskaliert – die setzen sich im öffentlichen Bewusstsein fest. Zugleich gibt es aber auch ein hohes Maß an zivilgesellschaftlichem Engagement. Unzählige Bündnisse haben sich auf lokaler Ebene gegründet – für Courage, gegen Gewalt und Hass. Dass die Mehrheit da täglich einen hohen Einsatz zeigt, geht mir zu sehr unter. Diesen Menschen wollen wir mit unserer Initiative eine Bühne bieten.