Doris und Hermann Schöggl schwelgen in Erinnerungen Foto: Lichtgut

Vor 60 Jahren begann eine wunderbare Geschichte. Für das Ehepaar Schöggl aus Hedelfingen ist das Chorfest eine schicksalhafte Veranstaltung.

Stuttgart - Sie hüten das Album wie einen Schatz. Es zeigt ihr Leben. Ihre Ehe. Ihre Liebe. Und wie am 2. August 1956 alles beginnt. Stuttgart ist in Feierlaune. Das Bundessängerfest, heute Deutsches Chorfest genannt, gastiert in der Stadt. „Es war eine Riesensache“, sagt Hermann Schöggl und schlägt das Fotoalbum auf. Die erste Seite zeigt den Startpunkt des Umzugs der vielen Sängervereine hin zum Neckarstadion. Verblasste Schwarz-Weiss-Fotos mit geschmückten Festwägen, ausgelassenen Menschen und einem einzelnen Schutzmann, der die Menge beobachtet. „Wir haben gesungen wie die Stare“, sagt Hermann Schöggl und erntet einen wohlwollenden Wimpernschlag seiner Frau Doris.

Sie erinnert sich gut an diese Tage vor 60 Jahren. Auch an „Papa Heuss“, den Bundespräsidenten aus Stuttgart, der die Festrede auf schwäbisch hält. Vor allem aber an diesen feschen jungen Mann, der seine Blicke nicht von ihr lässt. Alles ist so nah. So präsent - als erzählten beide von gestern.

Ja, dem Hermann ist das hübsche Fräulein sofort aufgefallen. An diesem Freitag, an der Treppe zur Liederhalle, die 1956 eingeweiht wird. „Wir haben beide auf unsere Auftritte gewartet“, sagt er. Jeder mit seinem Chor. Sie, die Alt-Stimme singt für die Sängergesellschaft Eintracht Stuttgart, er als Tenor für die SKG Gablenberg. „Wenn man so will“, sagt Doris Schöggl, „dann waren wir Gegner.“ Ein Gegner, der ihr Herz rührt. Nicht wegen des adretten, dunklen Anzugs, den Hermann beim Chorwettbewerb trägt. Es ist Sorge. „Hermann war so blass. Ich dachte, dem ist schlecht.“

Erst beim dritten Anlauf spricht er sie an

Die Blässe gehört zu Hermann wie sein slowakisch-stämmiger Name. Das wird Doris am Samstag klar. Es ist der Tag des Umzugs. Wieder kreuzen sich die Wege der beiden, wieder ihre Blicke. Sie wissen: Es muss das Schicksal sein, sich unter 120 000 Menschen wieder zu treffen. „Aber g’schwätzt haben wir immer noch nix“, sagt er. Erst beim dritten Anlauf, auf dem Weg zur Empore, fasst sich Hermann Schöggl ein Herz und spricht Doris an. „Du“, sagt er charmant, „es ist jetzt das dritte Mal, dass wie uns sehen. Jetzt lasse ich sie nicht mehr los.“

Die Höflichkeit legt Hermann schnell ab. Beim anschließenden Viertele in einer Weinstube sind schon per du, kommen sich näher verlieren das Zeitgefühl. „Oh, Hermann“, sagt sie angstvoll, „es ist schon fast zwölf. Die letzte Strambe isch beim Deufel.“ Doris hat einen strengen Vater. Also bleibt nur eines: Taxi fahren. Hermann zögert keine Sekunde. „Du färsch Taxi, egal, was es kostet“, befiehlt er, drückt Doris vier Mark in die Hand und weist den Droschkenfahrer an: „Bring sie gut Heim!“

Vielleicht hätten sie sich danach nie mehr wiedergesehen. Wer weiß. Aber die Fahrt kostet nur Dreiziebzig. 30 Pfennig Restgeld garantierten das nächste Treffen. Der Rest ist schnell erzählt. Verliebt, verlobt, verheiratet. Zwei Kinder, fünf Enkel. Und eine gemeinsame Leidenschaft, die bis heute lebendig ist: das Singen. Es ist und bleibt ein wichtiger Teil im Leben der Schöggls. „Wir gehen, wenn möglich, jeden Dienstag in d‘ Stund“, sagt sie, während er stolz die Ehrenurkunde „für 60 Jahre aktives Singen im Chor“ der Sängergemeinschaft präsentiert.

Nur einmal gab es Streit

Gestritten haben sie so gut wie nie. „Nur einmal wurde es ernst“, sagt sie und blickt etwas zorniger zu ihrem Mann. Denn dass er in der Babypause nach der Geburt ihres Sohnes alleine in die Singstunde verduften wollte, ist fast ein Trennungsgrund. Die Anekdote zeigt, wie wichtig der Chor und das Singen für die Schöggls sind. Als Hermann sich das wieder einmal bewusst macht, wird er philosophisch. Und sein Singsang wird zu einer Melodie der Liebe: „Singen befreit“, hebt er an und ist dann nicht mehr zu bremsen: „Zwei Faktoren können einem Menschen im Leben helfen: Singen und Lachen. Das macht ein Leben positiv. Die ganze Menschheit kann singen. Sprechen tun wir unterschiedlich, Singen können wir immer und überall gemeinsam. Es ist eine Sache, die alle glücklich macht. Von Jung bis Alt.“

Doris klebt in diesem Moment an den Lippen ihres Mannes. Und als er wieder auf das Album blickt und murmelt, dass Leben schönere Romane als jeder Schriftsteller schreibe, sagt sie nur: „Hanno, Hermann, dass wir das noch erleben dürfen.“ Sie meint das Deutsche Chorfest, das ab 26. Mai vier Tage lang die Stadt mit Gesang erfüllt. Es ist der Anfang einer wunderbaren Geschichte, die sich nun zum 60. Mal jährt.

Fakten: Am Deutschen Chorfest vom 26. bis zum 29. Mai nehmen mehr als 400 Chöre, Vokalensembles und Vocal Bands teil.

Die Orte: Auf dem Schlossplatz schlägt das Herz des Chorfestes. Dort steht eine Open-Air-Bühne. Alle Veranstaltungen dort sind kostenlos. Gleiches gilt für die mehr als 600 Tages- und Wettbewerbskonzerte des Chorfestes. Weitere Veranstaltungsorte sind Liederhalle, Theaterhaus, Stiftskirche, Dom St. Eberhard, Musikhochschule und Leonhardskirche.

Höhepunkte: Das Eröffnungskonzert am 26. Mai (15 Uhr) mit dem Bundesjazzorchester auf dem Schlossplatz. Duke Ellingtons Concert of Sacred Music am Sonntag, 29. Mai, 18 Uhr, im Theaterhaus mit dem Chor Semiseria.

Mitsingen erwünscht: An allen Tagen locken Mitmachformate wie der größte Beatles-Chor Deutschlands auf den Schlossplatz, ein Singalong der schönsten Opernchöre mit dem Staatsopernchor, der Ich-kann-nicht-singen-Chor und spezielle Mitsingkonzerte für Kinder.

Historie: Das Chorfest kommt zu seinen Wurzeln zurück: In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden im Land die ersten Chorfeste überhaupt gefeiert. Nach den nationalen Sängerfesten 1896, 1956 und 1968 ist das Chorfest zudem bereits zum vierten Mal in Stuttgart zu Gast.

Kontakt: Tickets unter www.easyticket.de oder per Tel. 07 11 / 2 55 55 55. Das ganze Programm unter www.chorfest.de.