Die Ethnogruppe Gora erinnert entfernt an die bulgarischen Gesänge von „Le Mystère des Voix Bulgares“, die in den 1980ern weltweit große Erfolge in Europa feierten. Foto: Heinze

Musik transportiert Erinnerungen, stiftet Identität und überwindet Grenzen. In diesem Sinne hat das am Donnerstag startende Deutsche Chorfest etwas Verbindendes. Kein Projekt vermittelt das so passend wie der Heimatabend im Theaterhaus.

Stuttgart - Ein Chorfest ohne Heimatlieder? Undenkbar. Man erinnere sich nur an den Kirchentag, als auf dem Schlossplatz Abertausende Kehlen Paul Gerhardts Lieder intonierten.

So etwas stiftet Gemeinsinn.

Umso wichtiger, dass sich auch beim Chorfest solche Programmpunkte finden. Auf den ersten Blick bietet dies das Projekt „Heimatlieder aus Deutschland“ am Sonntagabend (20 Uhr) im Theaterhaus. Aber schon der zweite Blick verrät: Hier geht es um die Heimat derer, die im Laufe der Jahre aus aller Welt nach Stuttgart gekommen sind. Der Titel „Heimatlieder“ ist daher eine bewusste Provokation. Es soll zum Nachdenken anregen – über den Begriff des Heimatliedes, der für manchen sehr verstaubt anmutet und in der deutschen Geschichte auch missbraucht wurde. Doch all das sind nur Nebengeräusche. Bei diesem Konzerterlebnis geht es um mehr.

Singen als Ausdruck einer Sehnsucht

Das Projekt versammelt mittlerweile über 120 Musiker aus rund 15 Nationen, die ihre Lieder vorstellen. Insgesamt stehen 70 internationale Künstler auf der Bühne, die inzwischen in Stuttgart Wurzeln geschlagen haben. Das Repertoire reicht vom kubanischem Son über kamerunische Bamileke und serbische Ethnomusik bis hin zu Unesco-geschütztem Quan-Ho-Gesang aus Vietnam. Ihr Singen ist aber auch Ausdruck einer Sehnsucht. Und ein Versuch, den durch die Migration erfahrenen Bruch von Kultur und Erinnerung zu kitten und sich schließlich wieder neu zu verorten.

Die Idee dazu stammt aus Berlin. Dort hatten die Freunde Mark Terkessidis und Jochen Kühling sich an einem Abend im Jahr 2012 gesagt: „Mensch, hier leben etwa 104 Communities und dazu die Leute aus der DDR, die mit ihrer Kultur auf unsere Kulturen treffen. Lass uns das doch vereinigen.“ Kaum neun Monate später ist daraus ein Kulturkonzept und ein erstes Konzert über die Bühne gegangen. Die Komische Oper in Berlin war rammelvoll. 1100 Leute riss es von den Sitzen. Am Ende haben alle gesungen und getanzt. „Die wollten uns nicht mehr von der Bühne lassen“, sagt Mit-Initiator Jochen Kühling, „alle wollten am Ende ein Teil des Ganzen sein.“ Manche haben dafür auch den schon etwas hölzernen Begriff Integration. Besser passt jedoch zusammen leben, zusammen feiern und lernen.

Kulturtransport, durch den sich neue Welten erschließen

Das Konzept „Heimatlieder reloaded“ ließ in Berlin und später auch in anderen deutschen Städten den Funken überspringen – von Künstlern ins Publikum und wieder zurück. Kühling nennt das „Kulturtransport, durch den sich neue Welten erschließen“. Er selbst weiß, wovon er spricht. Als der Musikproduzent durch Berlin streifte, um Künstler zu rekrutieren, hat er an einem Novembertag eine ganze Welt entdeckt. Morgens im Kiez von Vietnam, mittags zum Pfefferminztee bei den Marokkanern und abends in einer auf 35 Grad Celsius hoch geheizten kubanischen Botschaft. „An diesem Tag habe ich mehr gelernt als in vielen anderen Tagen davor“, sagt Jochen Kühling, „mir haben sich neue Welten erschlossen.“

Das soll sich nun beim Chorfest wiederholen. Quasi als Schatzsuche in Stuttgart. „Ich glaube, unser Heimatabend kann auch für die Stuttgarter ein gewinnbringender Beitrag sein“, sagt er, „obwohl Stuttgart eine Stadt ist, in der unterschiedliche Kulturen beispielhaft zusammenleben. Mir scheint, hier ist Ankommen selbstverständlicher als in anderen deutschen Städten.“ Die Alltagsprobleme und -brüche schlügen hier nicht so hart zu. Allerdings: „So gut, wie es sein könnte, ist es nirgendwo auf der Welt. Das Fremde ist sicherlich auch hier nicht in seiner ganzen Breite bekannt.“ Musik könne dabei „als großer Übersetzer“ dienen. Und durch die Heimatlieder der neuen Stuttgarter ließe sich auch besser in deren Seele blicken. „Durch diese Lieder kann man viel besser lernen und fühlen, wie die Leute ticken.“

Das gemeinschaftliche Singen neu lernen

Aber noch etwas hätten laut Jochen Kühling die neuen Deutschen aus ihrer alten Heimat mitgebracht: „In Deutschland wird kaum noch gemeinschaftlich gesungen. Das ist uns im Laufe der Zeit irgendwie abhandengekommen. Das können wir neu lernen.“ Spätestens am Sonntag in Theaterhaus.

Mehr zum Projekt „Heimatlieder“ unter: www.heimatliederausdeutschland.de Karten für das Konzert im Theaterhaus am Sonntag (20 Uhr) gibt es in den Kategorien 25, 20, 15 und 10 Euro unter www.easyticket.de oder 07 11 / 2 55 55 55.