Günther Oettinger ist Haushalts-Kommissar bei der EU. In Brüssel wird er sehr geschätzt. Foto: EU/Michel Christen

Seit acht Jahren mischt er mit seinem schwäbischen Englisch die EU auf. In Brüssel wird Günther Oettinger dafür und für seine Kompetenz geschätzt. Einige handeln ihn sogar als Kanzler.

Brüssel - Nach der Sommerpause erwacht das Brüsseler Europaviertel langsam aus der Leere einer langen Hitzeperiode. Braun gebrannt und gut gelaunt kommt Günther Oettinger zur Vereinigung der Auslandspresse. Der Kommissar, zuständig für EU-Finanzen, spricht über den Finanzrahmen der EU 2021 bis 2027. Kein Thema, das wirklich neu ist, der Saal ist dennoch voll. 70 Journalisten wollen hören, was der deutsche Kommissar zu sagen hat. Die wenigsten sind Deutsche, viele Italiener, Spanier, Briten sind gekommen. Oettinger redet auf Englisch. Ohne Manuskript. Sein Englisch hat immer noch einen nicht zu verkennenden schwäbischen Einschlag. Ansonsten ist es so, wie wenn er deutsch redet: Die Betonung ist zuweilen ungewohnt, manches Wort versteht man erst beim zweiten Mal. Doch lustig macht sich keiner darüber im Saal.

Bei den Journalisten wird er geschätzt für seine Analysen. Auch für seine Lernkurve, die er im Englischen hingelegt hat. Vielleicht ist es etwas sehr Deutsches, dass Oettinger bei vielen seiner Landsleute bis heute für sein Englisch belächelt wird. Auf EU-Parkett bekommt er Anerkennung dafür, dass er sich überhaupt traut. Anders als so mancher Kollege aus der Kommission. Da ist etwa Michel Barnier, langjähriger Kommissar und jetzt Chefunterhändler der EU für den Brexit. Der Franzose liest bis heute jedes Wort auf Englisch vom Blatt ab, auf Journalistenfragen antwortet er nur auf Französisch. Nicht so Oettinger. Er spricht inzwischen frei Englisch. Unter Sprachhemmungen leidet Oettinger wirklich nicht.

Oettinger nennt Merkel lahme Ente

Eher das Gegenteil ist der Fall. Der Mann redet Tacheles. Im Staccato-Rhythmus und mit Spaß an bildhafter Sprache: Da warnt er im Herbst 2016 die Europäer davor, die wirtschaftlichen Herausforderungen aus Fernost zu unterschätzen, und spricht von „Schlitzaugen und Schlitzohren“. Er bezeichnet Angela Merkel als „lame duck“ (lahme Ente), als ihr Vertrauter Volker Kauder als Fraktionschef abgewählt wird. Immer wieder müssen auch die, die ihn einladen, wegen Oettingers Ansagen schlucken. So ging es erst gerade wieder am Dienstag Gesamtmetall-Chef Rainer Dulger, als Oettinger bei Gesamtmetall zu Gast war und auf die Gefahr der italienischen Rechtspopulisten zu sprechen kam: „Wenn Salvini hier wäre, wäre dieser Saal voll.“

Meistens hat er recht, bisweilen überzieht er und muss sich später entschuldigen. Mehr als einmal in seiner Politiker-Laufbahn lag er völlig daneben, so etwa 2007, als er beim Trauerakt für seinen Vorgänger im Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, Hans Filbinger, einen ehemaligen Marinestabsrichter im Dritten Reich, diesen davon freisprach, ein Nazi gewesen zu sein. Der Satz kostete ihn fast die Karriere. Obwohl er sich immer wieder mächtig Ärger eingehandelt hat, lehnt Oettinger es aber bis heute ab, vorformulierte Reden seines Stabes vom Blatt abzulesen. Bei seinen Beratern löst er damit zwar immer wieder Schockwellen aus, die Zuhörer mögen es, weil er authentisch ist.

Oettinger kann die Zuhörer in den Bann ziehen, wenn man ihn leibhaftig erlebt. Egal, ob in kleiner oder großer Runde. Wird das gleiche Ereignis dagegen von einer Kamera aufgezeichnet und auf Bildschirmen wiedergegeben, erscheint der gleiche Mann häufig hölzern, provinziell, technokratisch.

Wurde Oettinger aus Stuttgart weggelobt?

Dabei hat Oettinger echte Nehmerqualitäten. Als er Digital-Kommissar der EU werden sollte, musste er sich einer Anhörung im Europaparlament stellen. Der Satiriker Martin Sonneborn konfrontierte ihn mit seinen Patzern aus der Vergangenheit. Oettingers Miene wurde erst sehr kontrolliert, dann sagte er: „Wer in der Politik ist, muss sich sein Leben lang an seinen Erfolgen und Misserfolgen messen lassen.“ Die Abgeordneten klatschten ihm dafür Beifall.

Sein Wechsel aus der Stuttgarter Staatskanzlei nach Brüssel 2010 sah zunächst aus wie ein Karriereknick. In einem durchgestochenen internen Bericht von US-Diplomaten hieß es über Oettinger: Die Bundeskanzlerin habe damit „eine ungeliebte lahme Ente von einer wichtigen CDU-Bastion“ entfernen wollen. Tatsächlich hätte er wohl gern in der Villa Reitzenstein weitergemacht. Doch sein Vorgänger Erwin Teufel, der es nie verwinden konnte, dass Oettinger ihn nach 14 Jahren aus dem Amt des Regierungschefs gedrängt hatte, nutzte seinen Einfluss auf den konservativen Flügel der seit dem Mitgliederentscheid 2004 gespaltenen Landespartei. Über Volker Kauder und Annette Schavan, die das Ohr der Kanzlerin hatten, wurde wohl eine Anschlussverwendung für Oettinger gesucht und bei der EU gefunden. „Es war“, wie einer, der damals nah dran war, sagt, „ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte“.

Für Oettinger wurde es letztlich zum Glücksfall. In Brüssel hat er seine Bestimmung gefunden. Oettinger, der Aktenfresser mit hoher Auffassungsgabe und Intellekt, hat sich in Brüssel schnell den Ruf erworben, fachlich brillant zu sein. Seitdem er in Brüssel ist, hat er drei Ressorts betreut, erst Energie, dann Digitales und jetzt Haushalt. Es gibt nicht viele Politiker, die dafür die Festplatte haben.

Gerade stellt er die Weichen für die EU-Finanzen im nächsten Jahrzehnt. Und es schließt sich der Bogen zu seiner Zeit als Ministerpräsident, als er die Föderalismus-Kommission mit Peter Struck (SPD) leitete und die Schuldenbremse im Grundgesetz verankerte.

Der Kommissar feiert gerne – und lange

Es gibt keinen in Brüssel, der auf so vielen Empfängen, Podiumsdiskussionen und Abendveranstaltungen auftritt wie Oettinger. Häufig kommt er spät und geht als einer der Letzten. Sein Durchhaltevermögen, wenn es ans Feiern geht, macht seinen Mitarbeitern zu schaffen. Umso erstaunlicher ist, dass er nicht selten am nächsten Tag um 7 Uhr wieder im Deutschlandfunk ein Radiointerview gibt und ihm keine Spätfolgen anzumerken sind. Wenn er nicht in Brüssel ist, tourt er am Wochenende im Südwesten und in der ganzen Republik und macht das Gleiche, Reden halten, Grußworte sprechen, Leute treffen. Er genießt es, dass er so viele Einladungen bekommt. Es tut ihm gut, es entschädigt für die heftige Kritik und die Ablehnung, die er zumal in Deutschland auch kennt. Die hohe Wertschätzung, die er auch in der CDU genießt, zeigt sich etwa daran, dass er hinter vorgehaltener Hand in der baden-württembergischen Landesgruppe als Anwärter für das Kanzleramt gehandelt wird, sollte Angela Merkel gehen.

An diesem Montag wird Oettinger 65. Ob er feiern wird, ist nicht bekannt. Er wird es wohl klein halten, vielleicht ein Glas Sekt mit seinen Kabinettsmitgliedern. Seine letzten zwölf Monate als Kommissar sind angebrochen. Oettinger hat früh angekündigt, dass er im November, wenn das Mandat der Juncker-Kommission zu Ende geht, seine politische Karriere beenden wird.

Oettinger will einen Job in der Wirtschaft

Oettinger will in die Wirtschaft gehen. Vermutlich hat er auch eine Idee, was er machen will. Wahrscheinlich zieht es ihn an eine Schnittstelle von Politik und Wirtschaft. Bisher ist aber nicht bekannt, dass er sich bereits entschieden hätte. Klar ist, dass Oettinger zunächst einmal ins „Abklingbecken“ muss. Zwei Jahre lang müsste er sich jeden neuen Job von der nächsten Kommission genehmigen lassen.

Das deutet darauf hin, dass Oettinger gelingt, was nur ganz wenige Große in der Politik schaffen: ein Abschied, wenn es am schönsten ist. Das sagt aber noch lange nichts darüber aus, was es für ihn persönlich bedeuten würde, wenn er sich aus der Politik abmeldet. Seit 40 Jahren mischt Oettinger in der Politik mit. Er war Landtagsabgeordneter, Ministerpräsident und ist seit 2005 Mitglied des CDU-Bundesvorstands. Wenn der montags tagt, ist Oettinger fast immer dabei.

Wenn er zur deutschen Innenpolitik gefragt wird, und das passiert häufig, sagt er, was er meint. Ohne sich parteipolitische Zwänge anzutun. Der Schnitt dürfte ihm schwerfallen, prophezeit einer, der ihn gut kennt: „Es wird tragisch für den Günther, wenn er nicht mehr Politik machen kann.“