Ein glücklicher Gewinner: Bodo Kirchhoff bei der Preisverleihung in Frankfurt Foto: dpa

Zum Auftakt der Buchmesse gewinnt Bodo Kirchhoff den Deutschen Buchpreis. Seine Novelle „Widerfahrnis“ erzählt von einem nicht mehr ganz jungen Paar, das auf einer Reise durch Italien die Liebe sucht – und Flüchtlinge findet. Ein Ereignis!

Stuttgart - Wie anfangen? Diese Frage stellt sich zu Beginn der Erzähler. Mit seiner mustergültig entfalteten Geschichte hat er die Antwort gefunden. Gerade deshalb fällt jene Frage umso schwerer auf den zurück, der versucht, sich einen Begriff davon zu verschaffen, was hier eigentlich passiert. Denn Bodo Kirchhoffs jetzt mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Novelle „Widerfahrnis“ ist ein Meisterwerk literarischer Ingenieurskunst. Wie es das Gattungsgesetz will, wird hier aus dem Kleinen heraus das Ganze entwickelt. Nichts ist überflüssig, eines greift ins andere, schon deshalb, weil der Erzähler aufs engste vertraut ist mit dem männlichen Part seiner beiden Protagonisten, dem einstigen Kleinverleger und Lektor Reither. Mit dem Band „Bis auf weiteres unsterblich“ hat dieser sich vom Geschäft des Büchermachens verabschiedet. Doch nach wie vor legt er jedes Wort, das der Erzähler wählt, auf die Goldwaage. Vermutlich hätte er auch von diesen einführenden Worten bereits die Hälfte gestrichen.

In einem voralpinen Seniorenstift hält er sich an die letzten Flaschen eines an bessere Zeiten erinnernden apulischen Weines. Bis es unvermittelt an der Tür läutet, woraus sich eine Geschichte entspinnt, in deren Verlauf ein Homme de Lettre und eine Hutmacherin, die beide mit ihren Berufen aus unterschiedlichen Gründen an einem immer kopfloseren Publikum gescheitert sind, in einer Frühlingsnacht aus dem geschützten Bezirk des Alters ausbrechen, um sich in Italien noch einmal dem Wind des Unerwarteten auszusetzen.

Die Einbahnstraße des Lebens fahren sie in umgekehrter Richtung ab, weshalb ihre Unternehmung auch keine Zukunft hat und mit etwas endet, das einem das Herz zerreißt. Ein Ausdruck, den der am offenen Herzen der Geschichte operierende Erzähler wohl durchgehen ließe, ausnahmsweise. Aber wovon sonst als der Ausnahme lebt eine Novelle? Geradlinig steuert dieses junge alte Paar darauf zu, in einem alten BMW Cabrio, mit einem Kassettenrekorder, weil Musik auch an jene Orte versetzt, zu denen keine Straße mehr führt. Und so fährt man über den Brenner, die Brücken des Po und der Erinnerung bis nach Apulien und weiter, immer weiter nach Sizilien. Eine Roadnovel also, aber eine, die einen Strahlenkranz an Bedeutungen hinter sich herzieht.

Immer wieder ragen Flüchtlingsgruppen ins Bild

Man könnte das knappe Widerfahrnis dieses Buchs als eine Schule des Schreibens ebenso lesen wie als zartbittere Liebesgeschichte, als melancholischen Abschiedsgruß, als Kindertotenlied, als Fantasie über die spannungsreiche Symbol-Beziehung von Sommer und Winter, Tag und Nacht, Jugend und Alter. Es ist all dies zugleich, und je mehr die Reise in Fahrt kommt, umso zwangloser verrichtet das kunstvolle Korrespondenzsystem der Novelle seine Arbeit wie ein kompliziertes Getriebe, dessen rundes und sanftes Laufgeräusch kaum ahnen lässt, was alles in ihm steckt.

Aber der entscheidende Punkt, auf den alles zuläuft, ist der, in dem sich der saturierte Ausbruch zweier Lebensschiffbrüchiger mit der elenden Flucht der Gestrandeten dieser Erde schneidet. Immer wieder ragen Flüchtlingsgruppen vom Wegrand des Erzählens ins Bild, auf Autobahnraststätten, „Menschen an ihre Habe geklammert, Rucksäcke, Bündel, Plastiktüten“.

In Catania wächst dem jungen Seniorenpaar ein Straßenkind zu. Eros und Caritas arbeiten einander in die Hände. Doch das aus so unterschiedlichen Quellen gespeiste Liebesfeuer verschmilzt die kleine Gemeinschaft nicht zur Familie. Eine unerhörte Begebenheit fegt schließlich den falschen Zauber hinfort, mit dem sich der Literat und die Hutmacherin gegen ihr Unglück zu verbünden hofften.

Das alte Machohafte hat sich bei Kirchhoff zur Meisterschaft geläutert

Das aber macht diese Geschichte insgesamt so unerhört. Dass sich die Meditation über die Flüchtigkeit des Lebens in den ernsten Szenarien derer spiegelt, die flüchten müssen, um zu leben. Ein nigerianischer Fischer, der mit Frau und Tochter in Europa auf ein besseres Dasein hofft, bringt am Ende den einsam versprengten Reither wieder auf Kurs. Wie ein biblisches Bild aus Kindertagen erscheint ihm die Flüchtlingsfamilie, ein Gegenbild auch zu den eigenen künstlichen Machinationen.

Er mache Bücher, antwortet Reither seinem Retter auf die Frage nach seiner Profession, Bücher, „in denen Frauen von ihren Wunden, Männer von ihren Narben erzählen“. Es mag darin etwas von der raubeinigen Männlichkeitspose anklingen, die Bodo Kirchhoff bisweilen nachgetragen wird. In der Weise aber, wie er hier die Wunden und Narben seiner Figuren mit dem Leid der Welt zusammenbringt, hat sich alles Machohafte zur Meisterschaft geläutert.