Umdrängt vom französischen Publikum: Die jungen Musiker vom Harmonikaspielring beim ersten Montbéliard-Besuch 1959. Foto: privat

Sie sind seit 60 Jahren Freunde: Der Handharmonika-Spielring Ludwigsburg und der Montbéliarder Chor Le Diairi pflegen eine der ältesten, wenn nicht die älteste deutsch-französische Vereinspartnerschaft. Jung und erlebnishungrig stürzten sie sich einst in die Beziehung.

Ludwigsburg - Es ist kurz vor Mitternacht, in einem Kinosaal, der mehr als 1000 Menschen fasst. Das „Lux“ in Montbéliard ist am 21. Februar 1959 Schauplatz eines denkwürdigen spätabendlichen Konzerts: Dort steht ein Schwung zumeist blutjunger Menschen gemeinsam auf der Bühne. Es sind Franzosen und Deutsche, sie singen, spielen Akkordeon, blasen Mundharmonika – und schreiben ein kleines Stück Völkerverständigungsgeschichte, auch wenn ihnen das in diesem Moment vielleicht gar nicht bewusst ist.

14 Jahre nach Kriegsende geben die Folkloregruppe Le Diairi aus Montbéliard und der Harmonika-Spielring Ludwigsburg (HSL) ihre gemeinsame Konzertpremiere, umjubelt vom nächtlich-aufgekratzten Publikum. Sie eifern ihren Heimatstädten nach, die als Vorreiter seit 1950 die erste deutsch-französische Städtepartnerschaft pflegen.

„Wir waren jung und ausgelassen“

„Beim Abschied“, erinnerte sich der damalige HSL-Vorsitzende Winfried Geeck später an den ersten Besuch in dem Städtchen in der Region Bourgogne-Franche-Comté, „schlich sich manche ehrliche Träne ins Auge gutwilliger Menschen, die Kontakte suchen und fanden. Herzlichkeit war, trotz Sprachschwierigkeiten, vom ersten Augenblick an Trumpf.“

Neben hehren ideellen Zielen beflügelten Deutsche und Franzosenaber schlichtweg auch Spaß und Entdeckerlust. „Wir waren jung und ziemlich ausgelassen“, sagt der 76-jährige Gerhard Ley, der als akkordeonspielender Schüler von der Erstbegegnung an bei der Partnerschaft mit von der Partie war. „Für uns war’s eine Sensation, in die Welt raus zu kommen.“ Französische Lässigkeit atmen, gut essen, verwegen Gauloises oder Gitanes qualmen, dem guten französischen Wein zusprechen: Auch das förderte die Vertrautheit. Und dass sie nicht mehr der Generation angehörten, die noch in „Erbfeind“-Kategorien gedacht hatte, erleichterte den Begegnungshungrigen das Bande-Knüpfen.

Schubert auf dem Akkordeon

Die Kontakte halten sich mittlerweile seit 60 Jahren. Die Freundschaft zwischen Le Diairi – benannt nach den regionstypischen Hauben, in denen die Sängerinnen auftreten – und zwischen dem Handharmonika-Spielring gilt als eine der ältesten, wenn nicht als älteste Vereinspartnerschaften zwischen Franzosen und Deutschen im Land. Kaum ein Jahr verging seither ohne Besuch und Gegenbesuch, ohne gemeinsame Konzerte, Ausflüge, Besichtigungen und Feste. Sogar Franz Schuberts Deutsche Messe haben Le Diairi und der HSL in einem speziellen Arrangement zusammen aufgeführt, obwohl es zwischen Chor- und Akkordeonorchester-Literatur sonst eigentlich kaum Schnittmengen gibt.

Warum die Erinnerung nicht verblassen darf

„Ich glaube nicht, dass ich ohne die Partnerschaft eine Beziehung zu Frankreich hätte“, sagt Volker Hähnlen. Er war, wie Gerhard Ley, früher Vorsitzender des HSL. Le Diairi war für Hähnlens Familie Impulsgeber einer Frankophilie, die aus Freundschaft entspringt – nicht etwa aus dem Gefühl heraus, pflichtgemäß Partnerschaftstermine abhaken zu müssen. Der 74-Jährige und seine Frau sind mit Cécile und Daniel Hauger befreundet, der Tochter und dem Schwiegersohn des langjährigen Le-Diairi-Dirigenten und Trägers der Ludwigsburg-Medaille Etienne Mallard.

Der Barock-Weihnachtsmarkt aus der Vogelperspektive

Die Hähnlens, die sich mit ihren Freunden regelmäßig privat treffen, erfüllen damit die vor 40 Jahren von Mallard geäußerte Hoffnung, die Partnerschaft möge ihre Substanz vor allem aus intensiven individuellen Beziehungen schöpfen. „Wir waren bei ihren Ehe-Jubiläen und bei den Hochzeiten beider Kinder eingeladen“, erzählt Volker Hähnlen, „eine davon auf einer Burg. Zu so etwas wäre ich sonst nie im Leben gekommen.“ Familie Hähnlen ihrerseits bot den Haugers Erlebnisse wie den Blick auf den Barock-Weihnachtsmarkt aus der Vogelperspektive, von einer Wohnung über dem Marstall-Center.

Zu Gerhard Leys engeren französischen Freunden zählen die 87-jährige Monique Suchet, einst Solistin bei Le Diairi, und ihre Enkelin Aline Marcel, die in die sängerischen Fußstapfen ihrer Oma tritt, obwohl sie nicht mehr in Montbéliard lebt und zu Chorkonzerten eigens anreist.

Freud und Leid, per Brief oder WhatsApp

Die Freunde schreiben sich Briefe und legen Fotos bei, schicken einander Mails oder WhatsApp-Nachrichten. Man nimmt Anteil am Leben der anderen. „Und man schaut anders auf Frankreich“, sagt Hähnlen. Auch auf die wirtschaftlichen Probleme der Partnerregion, etwa durch den Stellenabbau bei Peugeot. „Richtig diffizile Themen kommen aber eher nicht zur Sprache“, sagt Ley. „Einfach, weil man manche Worte wegen der Sprachbarrieren nicht richtig abwägen kann.“ Das schmälere aber die Tiefe der Verbundenheit nicht.

Ob die jahrzehntelang gewachsene Vereinspartnerschaft auf Dauer Bestand haben wird? So richtig optimistisch sind Ley und Hähnlen nicht. „Ob das mit unserer Generation ausstirbt, weiß man nicht. Beide Vereine haben mit Überalterung zu kämpfen“, sagt Hähnlen. Junge Leute seien heutzutage schwer fürs Akkordeonspielen zu entflammen. Und Frankreich übe auf eine Generation, die sich wie selbstverständlich in der ganzen Welt bewege, nicht mehr die damalige Magie aus.

Die Freundschaft fit für die Zukunft machen

Frank Baasner, Leiter des in Ludwigsburg beheimateten Deutsch-Französisches Instituts sieht das deutsch-französische Miteinander dennoch nicht in Gefahr. Zumindest im Grundsatz nicht. Akkordeonorchester und landsmannschaftliche Folklore, das seien im Blick auf die Zukunftsfähigkeit zwar „thematisch schwierige Hobbys“, sagt er. Doch das „Gefäß kommunale Partnerschaft“ lasse sich weiterhin füllen, wenn auch vielleicht nicht auf den altbekannten Wegen. „Über sportliche oder schulische Aktivitäten und Event-orientierte Aktionsformen kriegt man aber auch die nächste Generation“, ist Baasners Erfahrung. „Da gibt es selten Probleme, die Leute zu motivieren.“